Ein Zarenball in St. Petersburg (12. Mai 2016)

Nachdem ich die Stadtrundfahrt hinter mich gebracht und den Park Peterhof genossen, Mittag und Abendbrot gegessen hatte, ging es um 18:45 Uhr mit dem Bus wieder ins Zentrum von Sankt Petersburg in das Hotel Taleon, einem würdigen alten Luxus-Schinken, der bereits mächtig gewaltige zehn Jahre seit seiner Neu-Errichtung auf dem Buckel hat. Das ursprüngliche Gebäude auf diesem Platz wurde zwischen 1758 und 1771 von dem französischen Architekten Jean-Baptiste de la Mothe im Auftrag und für Nikolai Tschitscherin, dem damaligen Polizeichef in St Petersburg, erbaut – und ist auch als Tschitscherin-Haus bekannt.

Besitzer und Nutzung des Hauses wechselten, 1860-70 wurde von den damaligen Besitzern, den Jelissejew-Brüdern, ein Kultursalon eingerichtet, in dem sich heute der Große Ballsaal befindet und in dem Schriftsteller wie Fjodor Dostojewski, Iwan Turgenew und Michail Saltykow zusammenkamen, um aus ihren Werken zu lesen – auch Franz Liszt trat hier auf. Im Jahr 1886 fand im sogenannten Jelissejew-Haus die Uraufführung von Modest Mussorgskis Oper Chowanschtschina statt. Im Januar 1862 gründete Graf Grigori Kuschelew-Bezborodko im Jelissejew-Haus einen Schachclub. Zu den Mitgliedern des Clubs gehörten Nikolai Tschernyschewsky und Dmitri Mendelejew. Der Polizei  wurde allerdings berichtet, dass die Clubmitglieder politische Diskussionen über Verfassung und Revolution führen, Tschernyschewsky Reden hält und es gar kein Schach gäbe. Im März desselben Jahres hat daraufhin die Polizei den Klub geschlossen.

Nach der Oktoberrevolution 1917 flohen die meisten Mitglieder der Familie Jelissejew aus Russland. Sie glaubten jedoch nicht, dass das neue Regime lange herrschen würde, also ließen sie alles zurück. Der Legende nach versteckten sie die meisten ihrer Schätze in den Wänden des Hauses. Diese Schätze wurden nie gefunden. In den Jahren 1919-1923 gründete Maxim Gorki im ehemaligen Jelissejew-Haus das Haus der Künste, abgekürzt als DISK (nach der russischen Bezeichnung Дом искусств Haus der Künste) bezeichnet. In den Zeiten des russischen Bürgerkriegs und der Wirren danach wurde es Wohnung von Künstlern, Schriftstellern, Dichtern und Komponisten wie Viktor Schklowsky, Osip Mandelstam, Alexander Grin (der den Roman Das Purpursegel [Алые паруса, deutsch: Purpursegel, Rote Segel, Das feuerrote Segel] hier schrieb), Olga Forsch, Kornei Tschukowski, Michail Soschtschenko, Robert Roschdestwenski, Kuzma Petrow-Wodkin haben hier gearbeitet. Das Haus der Künste beherbergte das von Nikolaj Gumiljow geleitete Dichterstudio. Hier wurde er am 3. August 1921 verhaftet und später hingerichtet. Während dieser schwierigen Jahre wurden kaum Bücher gedruckt und das Haus der Künste spielte daher wegen seiner Literaturabende eine wichtige Rolle im kulturellen Leben der Stadt. Dort kam man zusammen, um den Lesungen von Alexander Blok, Maxim Gorki, Wladimir Majakowski, Andrei Bely, Anna Achmatowa, Fjodor Sologub und Herbert Wells aus ihren Werken zuzuhören. Olga Forsch beschrieb das Leben im Haus der Künste in ihrem Roman Sumassedsij korabl (Das Narrenschiff).  Ossip Mandelstam erinnert sich 1922 in seinem Prosatext Der Pelz:

Wir lebten in der ärmlichen Pracht des Hauses der Künste, im Jelissejew-Haus, das auf die Morskaja, den Newskij und die Mojka geht. Wir – das waren Dichter, Maler, Wissenschaftler, eine seltsame Familie, ganz verrückt nach den Lebensmittelrationen, verwildert und verschlafen. Der Staat wusste nicht, wofür er uns ernähren sollte, und wir taten nichts.

Im Jahr 1923 wurde im Gebäude das Kinotheater Light Ribbon eröffnet. Im Jahr 1931 wurde es in Barrikada umbenannt. In den 1920er Jahren arbeitete der junge Dmitri Schostakowitsch, damals Student am Leningrader Konservatorium, als Pianist bei Stummfilmvorführungen. Allerdings hielt es ihn in diesem Job nicht lange. Er wurde gefeuert, weil er mit seinem bravourösen Klavierspiel das Publikum von den Filmen ablenkte. Barrikada blieb auch während der Belagerung Leningrads geöffnet. Es wurden Kriegsdokumentationen und Vorkriegsfilme gezeigt. Die Tatsache, dass das Kino während der Belagerung geöffnet blieb, wurde zu einem wichtigen Symbol für die Stadt und zu einer Informationsquelle. Barrikada arbeitete bis Ende der 1980er Jahre. Dann hat der marode Zustand des Gebäudes seine Schließung erzwungen. 1998 wurde das Geld für Reparaturen aufgebracht und das Theater wieder geöffnet. Im Jahr 2006 wurde das Gebäude wegen „Rekonstruktion“ geschlossen. Im Juni 2007 wurde jedoch bekannt, dass das historische Gebäude abgerissen wurde. Anstelle des ursprünglichen Gebäudes wurde ein neues Gebäude errichtet, das dem Tschitscherin-Haus ähnelt. Es wird angenommen, dass das Gebäude neu gebaut werden musste, um ein Schwimmbad für die Gäste des lukrativen Hotels auf dem Dach zu installieren. Die ursprünglichen Innenräume des Gebäudes sind bei dieser Rekonstruktion verloren gegangen. Soviel zur wahren Geschichte des heute auf dem Platz des Tschitscherin-Hauses stehenden Hotels Taleon.

Wir fuhren also 18:45 Uhr mit dem Bus über den Newski-Prospekt, einigen Umwegen und Nebenstraßen an die Moika/Ecke-Newski-Prospekt, in die Nähe des Taleon-Hotels. Es wäre also an der Zeit etwas über die Geschichte des Newski-Prospekt in einem Video zu erzählen:

Wer es lieber Schwarz auf Weiß lesen mag: In meiner PDF-Datei „Newski-Prospekt und benachbarte Ensembles, Russisches Museum“ ist das im Video Erzählte auch nachzulesen.

Im Hotel wurden wir „fürstlich“ mit einem Glas Sekt und langen Reden empfangen, dann ging’s los, das Programm mit Gesang und Ballett. Ganz hübsch … – was mir aber wirklich gefiel, war die Volksmusik und deren spritzige Präsentation, das allbekannte Kalinka habe ich als Video aufgenommen. Dann folgte das lustige Volksslied Die Hausierer (Коробейники), ein Sitztanz; und mit dem Finale des Zarenball klang dann der Zarenball aus, auch diese drei Leckerbissen sind als Video hier, den Link anklickend, in einem kleinen Popup-Fenster oder auf YouTube als HD-Video anzusehen; und danach ging’s ab aufs Schiff zu Suppe mit Nachspeise und in die Koje. Und morgen sollten wir leider schon ausgeschifft werden, aber davor wird uns, den München-Fliegern, morgen noch die Gelegenheit gegeben, uns an einer Bootsfahrt über die Kanäle und die Newa zu erfreuen, die an der Moika in der Nähe des Palast- oder Schlossplatzes starten würde. Zur in Aussicht stehenden Kanaltour schon mal ein kleiner Vorgucker:

Die kleine Bildergalerie:

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