Astrachan
Tag Fünf: Ein Tag in Astrachan
Unser Spruch des Tages:
Das Lächeln, das Du aussendest
kehrt zu Dir zurück.
Häufig zu hörende Schlagworte über Astrachan sind: Venedig an der Wolga; Wächter über das Wolgadelta, der Handelswege über das Kaspische Meer nach Aserbaidschan und Iran; ehemalige Residenz der Khane des Tatarenreiches von Astrachan – bis zur Annektion durch das Russland Iwans des Schrecklichen im Jahre 1556. Es war aber keineswegs so (wie später nach der Annektion der Krim durch Katharina die Große), dass die Tataren Kazans, Astrachans und Sibiriens die Zaren Russlands als Unterdrücker sahen, Sergius Golowin schrieb in „Das Reich der Schamanen. Der eurasische Weg der Weisheit.” (1981 veröffentlicht):
Der Aufstieg des griechisch-christlichen Moskau, das sich im 15.—18. Jahrhundert stufenweise von der Krim befreite (Kommentar von mir: wie diese „Befreiung” tatsächlich ablief siehe hier), war für die Nomadenstämme nichts Besonderes. Sie sahen darin einfach den Aufstieg eines andern Mittelpunkts der gemeinsamen Kultur mit großzügigen Fürsten, phantasievollen Magiern und Astrologen, wunderschönen Prinzessinnen und stolzen Kriegern aus aller Welt. Man ging jetzt nach Moskau und glich sich den religiösen Bräuchen von dessen Bewohnern an, wie man in der langen Geschichte von Eurasien zu islamischen, manichäischen, zarathustrischen, jainistischen, buddhistischen und unzähligen ändern Höfen gezogen war: »Wenn du in die fremde Horde ziehst, behalte deine Sitten daheim« war ein altes Sprichwort. Die russischen Zaren machten diesen Vorgang einfach. Sie bezeichneten die Tatarenreiche von Kazan, Astrachan und Sibir als ihre angestammte »Wotschina«, also ihr Vatererbe. Sie nannten sich gern »Weiße Zaren«, was man heute von den »Weißen Knochen« ableitet, der mongolischen und tatarischen Bezeichnung der Menschen aus altem Geschlecht: Für die Nomadenvölker des Ostens war damit der Kaiser von Moskau sozusagen selber ein neuer Groß-Khan aus dem Geschlecht der Djingisiden. Wie hätte er sonst ihre Gebiete »als von den Vätern ihnen zubestimmt« zu bezeichnen vermocht? Über dem Doppeladler, dem uralten Sinnbild der magischen Macht, schwebten auf dem Wappen der Zaren drei prächtige Kronen, die man als ihre Macht über die drei Tatarenreiche von Kazan, Astrachan und Sibirien deutete. Im Verkehr mit den asiatischen Reichen sieht sich Rußland noch ganz als eines von ihnen, als der eigentliche Nachkomme der Macht der »Goldenen Horde«. Dem türkischen Sultan erklären seine Gesandten entsprechend im Jahre 1570: »Mein Zar ist kein Feind des moslemischen Glaubens. Sein Diener Sain-Bulat herrscht über das Khanat Kassymow, der Prinz Kaibula in Juriew, Ibak in Suroschsk und die Nogaischen Fürsten in Romanow«. Schon beim Moskauer Fürsten Wassili hatten die Bewohner seiner Stadt über sein zunehmendes Gefolge von Nomadenprinzen geklagt: »Wozu hast du die Tataren auf die russische Erde gebracht, um ihnen Städte und Länder zu Unterhalt zu geben? Wozu liebst du über die Maßen die Tataren und ihre Rede…?« Eine Schilderung um 1700 erzählt von der Beziehung der Zaren gegenüber den Tataren, Nogajern, Tscherkessen, Samojeden und Tschungusen, sie hätten keinen Tribut gezahlt, sondern seien mit Gaben überhäuft worden: Man habe diese Völker eigentlich »mit Zuvorkommenheit, Geschenken und vielfältigen Künsten« verwaltet. Strahlenberg erwähnt 200 russische Fürstenfamilien (Knezen), vor allem »vornehme Tatern« von Kazan und Kassymow, die dafür, daß sie sich taufen ließen und in die Dienste von Zar Alexei traten, zu hohen Edelleuten ernannt wurden! »Viel tausend (!)« hätten so die christliche Staatsreligion von Moskau angenommen. Strahlenberg schreibt lächelnd: »Ich habe in einem Dorfe 18 solche fürstliche Häuser gesehen«, ihre Mitglieder betrieben gleich ihren Nachbarn ganz gewöhnliche Landarbeiten… Der Vertreter einer solchen Sippe pflegte zu sagen: »Unsere Familie war ganz sicher durch die Jahrhunderte buddhistisch, chazarisch-jüdisch, mohammedanisch, römisch- und griechisch-christlich, sie hat aber immer an Gott in allen Religionen geglaubt und auch an die großen Ahnen. In allen wechselnden Reichen haben sie versucht, ihrem Lebensstil treu zu bleiben.« Die »tatarischen Edlen« waren es, die die Ausbreitung der Macht des »Weißen Zaren« über die Weiten Eurasiens ermöglichten, sicher so wie ähnliche Häuptlinge das gleiche in den vergessenen Reichen der hunnischen, chazarischen, mongolischen Groß-Khane getan hatten. Ihren noch heidnischen, islamischen, buddhistischen Stammesverwandten erzählten sie über die Pracht des Moskauer Hofes und von den Möglichkeiten des »großzügigen Lebens«, das er bot: »Nur die tatarischen Züge könnten die russische Herrschaft bei den asiatischen Völkern sympathisch machen«. Fedor Golowin verhandelt für den Zaren im 17. Jahrhundert mit Sibiriern und Mongolen; so etwa mit dem berühmten Galdan-Khan. Eine hübsche, aber fragwürdige Familiensage wußte sogar von seiner Romanze mit dessen wunderschönen Tochter. Er zieht die Grenze gegen China und wird Statthalter von Sibirien: Dies bedeutet »eine glückliche Zeit für die Bewohner des Landes; die Erinnerung daran ist noch nicht verloschen«. Rußland verdankt Fedor, wie noch die Nachschlagebücher des 19. Jahrhunderts priesen, »den Verkehr, den es seit 200 Jahren mit China besitzt«. Aber auch zu dieser Leistung, die als entscheidend für den Aufstieg der westeuropäischen Zivilisation gilt, ist zu sagen, daß der erwähnte Vertreter der sibirischen Geschichte von den tatarischen Häuptlingen abstammte, die in der mittelalterlichen Krim die Städte Sudak, Mankup und Kaffa verwalteten: Sie pflegten dort Beziehungen zwischen den östlichen Reichen und der Mittelmeerwelt, besonders mit Griechenland und dem Reich von Trapezunt: Um 1400 als Nachkommen eines Khowrin, Khomra oder Chowra in Moskau eingewandert, ohne die Verbindungen zum Schwarzen Meer ganz abzubrechen, pflegten sie die gleiche Vermittlerrolle unter den christlichen Zaren wie unter den zuerst schamanistischen, dann islamischen Khanen.
Auch während der Stadtführungen in den Städten entlang der Wolga wurde uns immer wieder von der Toleranz des Zusammenlebens und der wechselseitigen Achtung der verschiedensten Religionen in Russland erzählt. Es scheint in dieser Hinsicht dort ein ganz anderes, besseres gesellschaftliches Klima zu herrschen als zur Zeit in Deutschland …
Von den typischen Holzhäusern Astrachans sind nur wenige übriggeblieben, einige sind restauriert, die meisten dämmern aber noch ihrem Zerfall entgegen oder mussten modernen Hochhäusern weichen. In der Bildergalerie sind ich einige meiner Fotos dieser Häuser zu sehen.
Meine Erwartungen an das Flair der Stadt und die Menschen von Astrachan waren hoch und sie wurden auch nicht enttäuscht. Auch hier in Astrachan wurde, wie schon in Rostov-am-Don, der Vertreibung der Armenier aus Anatolien durch das Osmanische Reich gedacht, siedelten doch Armenier seit 1585 in einer der sogenannten Sloboda-Siedlungen um den damals erbauten Kreml.
Der Kreml ist ein mächtig gewaltiges Bauwerk – ich habe meine Videoaufnahmen daher mit dem ebenfalls gewaltigen Eingangschor „Der Falke fliegt hoch…” aus der Oper „DIe Kutscher auf der Poststation” von Jewstignei Ipatowitsch Fomin die mir einzig passend erscheinende Feierlichkeit aufgezwungen.
Zum Video des Sonnenaufgangs über Astrachan habe ich die lediglich untermalen sollende Musik auf meinem Synthesizer „Korg Wavestation WSR” zusammen gefriemelt. Das Schiff hat, obwohl um fünf Uhr in der Früh‘ auf der Wolga vor Anker liegend, leicht auf den Wellen der unter ihm fließenden Wolga getanzt – ich und mein Fotoapparat damit allerdings auch, wie man dem Video ansieht:
Auf einen Ausflug ins Wolgadelta habe ich im letzten Moment doch verzichtet, denn dieser macht, sofern man die unverfälschte Tier- nur Pflanzenwelt des Naturschutzreservates „Wolgadelta“ erleben will, nur dann Sinn, wenn man in einen mehrtägigen Ausflug mit einem Führer bzw. Angestellten des Naturschutzreservates bucht, wie ich vor Ort erfahren habe. Letztlich hat es an diesem Nachmittag außerdem in Astrachan etwas geregnet, was zwar meinen privaten Stadtbummel nicht beeinträchtigte aber der war im Delta etwas heftiger wie ich später erfuhr.
Jedenfalls bietet Astrachan mit seinen Grünanlagen und deren Brunnen und Fontänen viele Möglichkeiten zum entspannten Bummeln und Spaß haben:
Die interessanten Skulpturen auf dem Leninplatz wären mir ja dann auch entgangen. Typen wie die beiden Lebenskünstler, die unbedingt fotografiert werden wollten, hätte ich allerdings auch in Potsdam kennenlernen können.
Der Tag der Gesundheit, der die Jugend Astrachans für eine gesunde Lebensführung begeistern sollte, hatte als Mitmachübung auch die Vorführung eines Knochenakrobaten im Programm – aber die jungen Leute gaben ganz schnell jeden Versuch seine bizarren Verrenkungen nachzuahmen, auf – um keine Hexenschuss zu riskieren:
Um 18 Uhr verabschiedeten sich wir und MS Kandinsky laut Plan von Wolgograd, es wurde allerdings etwas später, da die nassen und enttäuschten Ausflügler ins Wolgadelta verspätet zurückkehrten.