Boarding
Er hat die Schuhe ausgezogen, den Rucksack neben sich auf den Boden gestellt und wartet jetzt darauf, dass sie ins Flugzeug gelassen werden. Er hat einen dunklen Mehrtagebart, kaum noch Haare auf dem Kopf, sein Alter liegt irgendwo zwischen vierzig und fünfzig. Er sieht aus wie ein Mensch, dem vor nicht allzu langer Zeit bewusst geworden ist, dass er sich von anderen nicht besonders unterscheidet, man könnte sagen: Er hat eine Art Aufklärung hinter sich. Die Reste dieses Schocks sind noch auf seinem Gesicht ablesbar: Die Augen schauen nur nach unten, in die Gegend der Schuhe, wahrscheinlich um nicht mit dem Blick andere zu streifen; keine Gestik und Mimik, sie sind überflüssig geworden. Nach einer Weile zieht er ein Heft heraus, ein hübsches Notizbuch, handgeheftet, wahrscheinlich hat er es in einem Laden gekauft, wo man für viel Geld Dinge kaufen kann, die billig in der Dritten Welt hergestellt worden sind; auf dem Umschlag aus Recyclingpapier steht in schwarzen Druckbuchstaben: Traveller’s Log Book. Es ist zu einem Drittel voll geschrieben. Er legt es aufgeschlagen auf seine Knie, und sein schwarzer Gel-Stift beginnt den ersten Satz.
Jetzt ziehe ich auch mein Bordtagebuch heraus und beschreibe diesen schreibenden Mann. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass er jetzt schreibt: »Eine Frau, die etwas aufschreibt. Sie hat die Schuhe ausgezogen, den Rucksack neben sich auf den Boden gestellt…«
Geniert euch nicht – ihr anderen, meine ich, die ihr auch aufs Einsteigen wartet -, nehmt eure Tagebücher raus und schreibt. Wir, die Aufschreibenden, sind ja zu vielen. Wir lassen uns nicht anmerken, dass wir einander betrachten, wir heben den Blick nicht von unseren Schuhen. Wir werden uns gegenseitig aufschreiben, das ist die sicherste Form der Kommunikation, wir werden einander in Buchstaben und Initialen verwandeln und auf den Seiten der Notizbücher verewigen, wir werden uns plastinieren, ins Formalin der Sätze versenken.
Nach der Rückkehr nach Hause stellen wir das vollgeschriebene Tagebuch zu den anderen, in einer Schachtel hinter dem Schrank bewahren wir sie auf oder in der untersten Schreibtischschublade, in einem Fach im Nachtschränkchen. Dort haben wir über unsere Reisen berichtet, angefangen von den Vorbereitungen bis hin zur glücklichen Rückkehr. Über den hinreißenden Sonnenuntergang an einem schmutzigen, mit Plastikflaschen übersäten Strand und einen bestimmten Abend in einem überheizten Hotel. Die exotische Straße, wo ein kranker Hund uns um Essen angebettelt hat, wir aber nicht einen Krümel hatten, und die Kinder, die uns in dem Städtchen umringten, wo der Autobus den überhitzten Kühler kalt werden lassen musste. Ein Rezept für Erdnusssuppe befindet sich darin, die wie ein Sud aus Putztüchern schmeckte, und ein Feuerschlucker mit versengten Lippen. Wir haben minutiös unsere Ausgaben aufgelistet und erfolglos versucht, die Form eines Ornaments aufzuzeichnen, das in der Metro kurzfristig unsere Aufmerksamkeit gefesselt hat. Ein seltsamer Traum, den wir im Flugzeug hatten, und die Anmut einer buddhistischen Nonne, die an irgendeinem Ort eine Zeitlang vor uns in der Schlange gestanden hat. Hier wird alles stehen, sogar der stepptanzende Matrose am leeren Kai, wo einst Passagierschiffe ablegten.
Wer wird das lesen?
Gleich wird das Gate geöffnet. Die Stewardessen machen sich schon am Pult zu schaffen, und die Passagiere, die bis jetzt in Lethargie versunken waren, erheben sich von ihren Plätzen, rufen ihr Handgepäck zur Ordnung. Sie suchen ihre Bordkarten, legen die nicht ausgelesenen Zeitungen ohne Bedauern beiseite. Jeder nimmt im Kopf eine stumme Gewissenserforschung vor: Ist alles da – Pass, Ticket und Bordkarte? Hat er Geld gewechselt? Und wohin fliegt er? Und warum? Wird er dort finden, was er sucht, hat er die richtige Richtung eingeschlagen?
Die Stewardessen, schön wie Engel, prüfen unsere Reisekompetenz und erlauben uns mit sanfter Hand, in die weichen, mit Teppich ausgelegten Wölbungen des Tunnels zu sinken, der uns an Bord des Flugzeugs führt und dann, auf einem stürmischen kalten Weg, zu neuen Welten. In ihrem Lächeln verbirgt sich, wie uns scheint, ein Versprechen, dass wir vielleicht Neugeborene werden, diesmal zur rechten Zeit am rechten Ort.
Olga Tokarczuk