Nischni Nowgorod
Tag Zwölf: Ein Vormittag in Nischni Nowgorod
(Ни́жний Но́вгород)
Unser Spruch des Tages:
Lieber einmal mit den Augen gesehen,
als hundert mal mit den Ohren gehört.
(russisches Sprichwort)
Viertel nach vier Uhr begann für mich der Tag mit einem fulminanten Sonnenaufgang über der Wolga, aber dann habe ich mich wegen der Kälte da draußen doch lieber wieder in die Kabine verkrochen. Um acht Uhr gab es erst Frühstück, also bin gegen viertel vor sieben noch mal zum Wolga gucken raus und hab still vergnügt den interessanten Landschaften bis gegen acht draußen nachgehangen.
Nach dem Frühstück, gegen neun Uhr, konnten wir schon Nischni Nowgorod in der Ferne sehen. Wir unterquerten die Wolga-Seilbahn (zwischen Nischni Nowgorod und Bor), die uns, wenn wir darin gesessen hätte, sicherlich ein wunderbaren Blick über die Gegend erlaubt hätte. Aber dafür bot sich uns in der kurzen Zeit unseres Aufenthaltes leider keine Möglichkeit.
Bevor das Schiff im Hafen anlegt, unterquert es eine gewaltige Eisenbahn- und Autobrücke über den Strom, passiert dann die Wohnsiedlungen und Hafenanlagen auf der flachen Landzunge an der Oka-Mündung. Blickfang der Landzunge ist die in den letzten Jahren restaurierte Alexander-Newski-Kathedrale, die einst zum Messegelände gehörte. Der Passagierhafen liegt zu Füßen des Kremls am Ufer der Wolga. Die schon von weitem zu sehende 500 Stufen zählende Treppe zum Kreml ist nach Valerij Čkalov (1904-1938) benannt, einem der berühmtesten und verwegensten sowjetischen Testflieger.
Unser Schiff legte nicht direkt an der Hafenmole, sondern an einem anderen russischen Ausflugsdampfer an, sodass wir den Passagieren dieses Schiffes fast die Hand hätten reichen können
“Nun also waren wir in Nischni Nowgorod; „Nowgorod“ bedeutet Neustadt. Es gibt in Russland zwei Neustädte. Weliki Nowgorod (Große Neustadt) liegt im Norden des Landes und war bereits zu Zeiten der Kiewer Rus‘ ein bedeutendes und einflussreiches Fürstentum mit Handelsbeziehungen in alle Welt. Nischni Nowgorod (Нижний Новгород, Km 862) ist die „Untere Neustadt“ womit gemeint ist, dass sie weiter südlich liegt. Gegründet wurde die Stadt 1221 nach dem siegreichen Feldzug eines Fürsten von Wladimir-Suzdal gegen die Wolgabulgaren. Nach dem Einfall der „Goldenen Horde“ und deren Vertreibung Ende des 15. Jh. erlebte Nischni Nowgorod, das mit Moskau auf den Flüssen Oka und Wolga einen regen Handel trieb, eine Blütezeit. Im 19. Jh. entstand hier der größte Messekomplex Europas.
Ab 1932 trug die Stadt den Namen des hier geborenen Schriftstellers Maxim Gorki; sie wurde zu einem Zentrum der Waffenindustrie und war für Ausländer geschlossen. 1980-86 lebte der Atomphysiker und Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow hier in der Verbannung. 1991 erhielt die Stadt ihren ursprünglichen Namen wieder, und 1995 feierte die berühmte Messe (jarmarka, vom deutschen Wort „Jahrmarkt“) ihr 100-jähriges Jubiläum; sie wird nun wieder alljährlich hier abgehalten.
Längs des Passagierhafens verläuft die Uferpromenade. Die Häuser an dieser und an der parallel verlaufenden Straße stammen fast alle aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In ihren Fassaden drückt sich der Wohlstand der zu dieser Zeit auch politisch einflussreichen Kaufmannschaft aus.
Eine der bekanntesten Industriellen- und Kaufmannsfamilien waren die Stroganows. Die Ursprünge der Dynastie gehen auf das Ende des 14. Jahrhunderts zurück. Mit Unterstützung Ivan des Schrecklichen erschlossen die Stroganows die Gebiete zwischen Wolga und Ural. In ihrem Dienst unternahm der Kosaken-Ataman Jermak 1582/83 den ersten russischen Feldzug nach Sibirien. Peter der Große hob die Stroganows in den Adelsstand, die österreichische Kaiserin Maria Theresia verlieh ihnen 1761 den Grafentitel. International bekannt ist der Name bis heute dank des Bœuf Stroganoff, das von einem französischen Koch kreiert wurde, der im Dienst der Familie stand.
Am Newski-Prospekt in Sankt Petersburg besaßen die Stroganows ein Palais, in Nischni Nowgorod ließen sie Anfang des 18. Jahrhunderts die Heilige-Jungfrau-Kirche errichten.
Der Barockbau befindet sich ganz in der Nähe des Hafens auf einer Terrasse und bezeugt mit seinen phantasievollen Steinmetzarbeiten auf violett-rotem Untergrund, dem verspielten Schmuckwerk aus weißem Kalkstein sowie den einfallsreichen Fensterumrahmungen den Geschmack der Zeit und den Reichtum der Stifter. Fresken und Ikonenwand sind original erhalten. Als die Stroganows den Hauptsitz ihrer Geschäftsaktivitäten von Nischni Nowgorod nach Petersburg verlegten, schenkten sie die Kirche der Stadt.
An der Mündung der Oka in die Wolga steigt das zuvor flache rechte Ufer beträchtlich in die Höhe. Von hier beherrscht man die beiden Flüsse. Die Oka und ihre Nebenflüsse verbinden die Wolga mit Wladimir und Moskau, und die Gründung Nischni Nowgorods geht nicht zuletzt auf diese strategisch günstige Lage zurück. Am rechten Hochufer der Oka wurde der Ehrfurcht gebietende Kreml errichtet. Er war im 13. Jh. zunächst nur eine kleine Festung und wurde dann zwischen 1500 und 1515 neu aus Stein erbaut. Die Mauer passt sich dem Gelände an, führt hügelauf und hügelab, als würde sie die zur Wolga strebenden Berghänge halten. Verstärkt wird sie durch 12 Türme; ursprünglich waren es 13. Der größte unter ihnen ist der 30 Meter hohe Dmitriew-Turm, über dessen Einfahrt ein springender Hirsch angebracht ist, das Stadtwappen von Nischni Nowgorod.
An der Innenseite der Mauer, links vom Dmitriew-Turm, ist Militärtechnik aus dem Zweiten Weltkrieg ausgestellt, die in den Betrieben der Stadt produziert wurde. Die Bauten aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beherbergen die Gebiets- und die Stadtverwaltungen. Entlang von Grünanlagen und bunten Blumenrabatten gelangt man zum 1826 errichteten Minin- und Pozarskij-Obelisken.
Vor allen Dingen wird der Kreml jedoch von den Einheimischen zum Spazierengehen genutzt, die von hier aus den atemberaubenden Blick auf die Wolga genießen. Über den Blick, den man von der oberen Uferpromenade auf dem Gelände des Kreml hat, schrieb der Maler llja Repin (1844-1930): „Diese majestätische über dem ganzen Osten Russlands errichtete Stadt hat uns die Köpfe verdreht. Wie überwältigend sind ihre unübersehbaren Weiten.“
Die Gebäude in der historischen Altstadt, hier und da im 20. Jahrhundert um sowjetische Zweckbauten ohne künstlerischen Wert „bereichert“, stammen aus dem 17. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts – Barock, Klassizismus, Eklektizismus und Moderne. Die meisten von ihnen liegen um den Minin- und Poscharski-Platz vor dem Kreml und entlang der am Platz beginnenden, fast zwei Kilometer langen Bolschaja-Pokrowskaja- (Große Fürbitte) Straße, der beliebtesten Flaniermeile der Stadt.
Die Bolschaja Pokrowskaja (Большая Покровская) ist die Haupt-Fußgängerzone der Stadt. Sie führt vom Minin-Platz zum Gorki-Platz und ist für Autofahrer gesperrt. Auch wenn immer mehr Geschäfte in die großen Einkaufszentren umziehen, ist die Bolschaja Pokrowskaja bei den Einheimischen insbesondere wegen der vielen Restaurants beliebt. Diese laden im Sommer zum draußen sitzen ein, um den Straßenmusikern zu lauschen oder die vorbeigehenden Spaziergänger zu beobachten.
Von dieser Flaniermeile ging es um 13 Uhr mit dem Bus wieder zurück auf das Schiff und um 13:30 Uhr hieß es „Leinen los“ in Richtung Gorodez und über eine Doppelschleuse (Über zwei Schleusen überwinden die Schiffe 18 Meter Höhenunterschied) auf den 427 km langen Gorkier-Stausee, den wir bis Einbruch der Dunkelheit erreichten. Um 20:30 Uhr gab dann der Bordpianist ein Konzert mit Werken von Komponisten aus dem Zeitalter der Romantik und ganz viel Stausee …
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