Breslau

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Kempner

Auf dem Alten Jüdischen Friedhof in Breslau liegt Friederike Kempner begraben. Wer sie ist, fragst du? Sie ist oder besser war Tochter eines Rittergutsbesitzers und selber von guten Geistern besessen, z. B. der Poesie. Pegasus ist ihr liebstes Steckenpferd. Auf ihm galoppiert sie leidenschaftlich durch ihre Ideallandschaften und stolpert auf allen Versfüßen über Realitäten wie: Würmer und Dornen, Sinnlichkeit und Tücke, soziale Kontraste, zu lange oder zu kurze Wörter, schlechte Ärzte und Richter, Reime, die Bourgeoisie, die Niedrigkeit. Sie reitet „in des Kampfes Marken mit des Mutes Eigenschaft“ und bricht kühn ihre Feder in der Fehde wider Vivisektion, Einzelhaft, Scheintod, Intoleranz und Bösewichter aller Artung. Und sie ficht für: Nachtigallen, Poesie und Rosen, gesetzliche Leichenhäuser (dies mit Erfolg!), das Gute, Schöne und Wahre, das „Götterfeuer Menschlichkeit“ u. dgl. Die Weite ihres Wollens stößt an die Schranken ihres anerzogenen Horizontes, ihr Pegasus überschlägt sich in den komischsten Kapriolen. So wurde sie zum „Genie der unfreiwilligen Komik“. Immerhin Genie, was man von den akademischen Goldschnittlyrikern ihrer Zeit nicht sagen kann, deren hochtrabendes Epigonentum sie auf ihre Weise glanzvoll parodiert.

In einem (DDR)-Reclemheftchen von 1973 fand ich folgende lyrischen Exzesse der schlesischen Nachtigal, in denen sie sich mit den letzten Dingen und dem was von uns bleibt, auf ihre ganz unvergleichliche Weise auseinandersetzte:

SCHWANENGESANG

Nieder steig’ ich zu den finster’n Schatten,
Die mich krönt, die Krone leg’ ich ab,
Endend meinen Erdlauf, lebenssatten,
Wo sie stets das einz’ge Gut und Hab’!

Strahlen wird sie künftig nicht im Lichte,
Die ein Gott für Licht und Glück bestimmt,
Die die Frucht begeisterter Gesichte
Nie der Orkus zu sich wieder nimmt!

Ewig werden meine Lieder blühen,
Die zu dichten mir Natur vergönnt,
Mögen aller Teufel Augen glühen,
Zieht sie nieder doch, wenn ihr es könnt!

MITWELT UND NACHWELT

Zu des Orkus’ finsteren Gewalten
Lege ich mein lebensmüdes Haupt,
Ungeheuer, öffne deine Falten,
Viel hab’ ich gestrebt und viel geglaubt!

Jung und kräftig und vom Mute strahlend,
Lebenswarm die Brust, das weiche Herz:
Mitwelt, deine Schuld bezahlend,
Gräbt die Nachwelt einst mein Bild in Erz.

LETZTE MAHNUNG
Von den Sternen fiel ich nieder
Und verwinde nie den Fall,
Aber meine Hohelieder
Ziehen klangvoll durch das All!

Und wenn ich dereinst ’mal sterbe,
Mahnet euch der Musen Chor:
Nicht enthaltet dieses Erbe
Euren Nachekommen vor!


 

BrahmsSeit dem 11. März 1879 durfte Johannes Brahms den ihm von Cambridge vorenthaltenen Titel Doctor honoris causa mit Recht führen. Cambrige wollte ihn mit diesem Titel ehren, aber weil er partout jede öffentliche Ehrung und den damit verbundenen Rummel verabscheute, wollte er nicht nach Cambridge reisen. An jenem Tage im Januar 1879 hatte ihn die philosophische Fakultät der Breslauer Universität zum Doctor honoris causa ernannt. Der Fakultätsbeschluß erfolgte auf Antrag von Dilthey und Dove, und bald darauf erhielt Brahms das usuelle, in lateinischer Sprache ausgefertigte Diplom, mit welchem ihm Name, Titel und Vorrechte eines Doktors der Philosophie verliehen wurden.

Ursprünglich hatte Brahms sich mit der Zusendung eines einfachen handschriftlichen Notiz der Quittierung an die Universität begnügt, denn er verabscheute jede öffentlichen Trubel um eine Berühmtheit. Doch der Breslauer Dirigent Bernard Scholz, ein Freund von Brahms, der ihn der Breslauer Uni für die Ehrendoktorwürde vorgeschlagen hatte, überzeugte Brahms, dass es das Protokoll unbedingt erfordere, der Universität Breslau eine großzügige Geste der Dankbarkeit zu bezeigen. Die Universität erwarte nichts weniger, als ein musikalisches Geschenk des Komponisten, – „Einen feierlichen Gesang erwarten wir mindestens“. „Verfassen Sie eine schöne Symphonie für uns!“ schrieb er an Brahms. „Aber gut instrumentiert, Freundchen, nicht zu gleichmäßig dicke!“

Die Akademische Festouvertüre c-Moll op. 80 von Johannes Brahms entstand im Sommer des Jahres 1880 in Bad Ischl, zur gleichen Zeit wie die Tragische Ouvertüre d-Moll op. 81. Die Uraufführung fand am 4. Januar 1881 unter Brahms’ Leitung in Breslau statt.

Beide Werke hat er ziemlich gleichzeitig in Ischl ausgearbeitet, sofort vierhändig gesetzt und nach Berchtesgaden mitgenommen, um sie am 13. September der Freundin Clara zu ihrem Geburtstage zu überbringen. Sie studierte die „prachtvollen Ouvertüren“ morgens und spielte sie abends mit dem Komponisten, der ihr auch ,,zwei neue erste Sätze zu zwei Trios« spielte, von denen ihr „der in Es Dur [?]“ zumeist gefiel. Joachim, der auch erschienen war, spielte den ersten Satz des Violinkonzertes „herrlich“; beide waren sehr liebenswürdig, Johannes besonders guter, freundlicher Stimmung, so daß Clara „wirklich Freude an seinem Besuche haben konnte“.

»Diese erste Probe war also offenbar zur Zufriedenheit des Komponisten ausgefallen. Mit um so besserer Laune machte er zum Thema „Honorar“ dem Freunde und Verleger gegenüber einige neue Variationen. „Wie denken Sie sonst über Ouvertüren? Sind diese (wie Sie denken können, ausgezeichnete) vielleicht das Stück 1500 oder 1000 Thaler wert? (Incl. vierhändigem Arrangement). Sie werden aber mit Recht sagen, man braucht keine, solange Weber, Cherubini und Mendelssohn noch nicht ausverkauft sind. Die Akademische empfehle ich Ihnen aber für Militärmusik setzen zu lassen.“

Wenn auch nicht gerade als Programmnummer bei Militärkonzerten – obwohl sie wirklich für Türkisch gesetzt worden ist -, so hat die Akademische doch breite Erfolge zu verzeichnen. Sie gehört zu den wenigen populären Werken des Meisters, der ja Popularität nie gesucht hat, von ihr nur manchmal überrascht wurde. Erinnerungen an die Göttinger Jahre mögen es gewesen sein, welche dem Werke eine besondere Wärme, eine gewisse Unbedenklichkeit in der Wahl des Themenmaterials gegeben haben. Ein „Potpourri à la Suppé“ nannte es der Komponist selber. Dem Rector magnificus und dem gelahrten Professorenkollegium der Breslauer Universität sollte die Ouvertüre huldigen, sie ist aber zu einem Studentenrummel geworden, dessen besonderer Witz die Fassung burschikoser Elemente in höchster Kunstform ist. Pianissimo und staccatissimo kündigt sich von ferne, wie durch die gewundenen Gassen einer alten Universitätsstadt herüberklingend, ein Aufmarsch an, bald näher kommend, lauter, triumphaler werdend – un poco maestoso – und plötzlich, wie um die nächste Straßenecke biegend, bricht genau beim hundertsten Takt der Partitur das Stück eines Scharliedes los, das jeder im Saale sofort mitsingen könnte; aber ehe es noch recht erkannt und begrüßt ist, wird es in das Stimmengewebe des ersten Themas verstrickt; eine schmachtende Kantilene in der Klarinette taucht auf, wird über Oboe, Flöte und Geigen weitergeführt und verläuft in ein sanftes Triolengedudel der Holzbläser. Dann schnarren plötzlich, kaum begleitet, zwei Fagotte los: „Was kommt dort von der Höh’?“ Man glaubt sie den Text mitblasen zu hören. Initium fidelitatis! Aber sofort bemächtigt sich strenger Kontrapunkt, als wollte er einen unpassenden Zwischenfall vergessen machen, des derben Themas und verkleidet es schicklich. Der Gassenhauer läßt sich dennoch nicht beschwichtigen, er ruft im Gegenteil zu den Fagotten noch die Hörner und die hohen samt den schrillen Flöten herbei und unter dem Brio festlicher Nachschläge des ganzen Streichorchesters versucht er es, sich als Hymnus aufzuspielen. Der eigentliche Hochgesang bleibt freilich dem „Gaudeamus“ aufgespart, in das, von brillanten Geigenläufen umspielt, die Ouvertüre rauschend mündet.« [Alfred Ehrmann „Johannes Brahms – Weg, Werk und Welt.“]

Es folgen Videos zweier Interpretationen der Akademischen Festouvertüre:

  1. Johannes Brahms: Akademische Festouvertüre c-Moll op. 80, eingerichtet für Klavier zu vier Händen, interpretiert vom Klavierduo „Gaudeamus“ – Viktor Jugovic (*1996) & Andreas Domjanic (*1995) – in Lichtenstein 2009.
  2. Johannes Brahms: Akademische Festouvertüre c-Moll op. 80 für Sinfonieorchester mit den Nürnberger Symphonikern unter dem Dirigenten Urs Schneider.

kloeseltorVom Klößeltor
Vor langer, langer Zeit lebte in einem Dorfe bei Breslau ein Bauer Namens Anton. Er hatte eine liebende Gattin Sophie, die wie keine andere Hausfrau hervorragende Klöße zubereiten konnte. Alle fragten sie nach dem Rezept, aber auch die danach gekochten Klöße schmeckten bei den anderen Hausfrauen nie so gut wie die bei Sophie. Leider erkrankte Sophie einmal und gab ziemlich schnell den Löffel ab. Der arme Anton konnte sich kaum mit dem Verlust abfinden. Eines Tages begab er sich auf den Jahrmarkt, der auf der Dominsel zu Breslau stattfand. Als er alle seine Esswaren verkaufte, wollte er vor dem Heimkehr eine Weile ausruhen und setzte sich beim Tor zwischen der Ägidienkirche und dem Schiefen Turm. Als er da sein Nickerchen machte, erschien ihm im Schlaf seine Frau, die ihm so sehr fehlte. Und als er die Augen aufmachte, sah er vor sich einen Topf voller leckerer Klöße stehen. Er fiel über die Klöße her und da erinnerte er sich an die Mahnung seiner Frau, die im Traum zu ihm sagte: „Du sollst immer im Topf einen Kloß übrig lassen, so bleibt er auch für Ewigkeiten voll. Wenn du aber alle Klöße aufisst, bleibt der Topf für immer leer“. Anton konnte jedoch der Versuchung nicht widerstehen und als im Topf der letzte Kloß geblieben war, versuchte er ihn doch mit der Gabel aufzuspießen. Da sprang der Kloß plötzlich aus dem Topf auf den Bürgersteig hinaus und dann auf ein Kirchenfenster hinauf und dann noch ganz hoch auf das Tor, um dort für Ewigkeiten zu versteinern. Und so blieb der Topf auf immer leer.


LasallFerdinand Lassalle

Ferdinand Lasalle war einer der Außenseiter, die Hans Mayer in seinem Buch „Außenseiter“ als Phänotypen des, hier jüdischen, Außenseiters charakterisiert hat. Da ich für dieses Buch gleichzeitig Werbung machen möchte – ich halte es für außerordentlich lehrreich – werde ich das Ferdinand Lasalle, der einer der Gründerväter der Sozialdemokratie war, betreffende aus diesem Buch zitieren:

Er konnte alles und viel zuviel. So drang sein Name niemals über deutsche Grenzen. Seine Bücher fanden keine Leser und Schüler, da es darin eigentlich nicht um Heraklit oder das ›System der erworbenen Rechte‹ ging, sondern um Lassalles Demonstration: auch das zu können. So wurde er zum deutschen Skandal: ausgiebiger als irgendeiner nach Heine. Und ohne dessen Dichtertum. Ein Arbeiterführer, dem Arbeiter insgeheim widerlich waren. »Er hatte nichts, ja gar nichts von einem Volksmann. Er litt physisch unter der Notwendigkeit, eine Kneipe zu besuchen, stickige Luft zu atmen, schweißige Hände zu drücken.« Die Parallele zu manchen Deklamationen Heines, etwa im Vorwort zu ›Lutetia‹, ist erstaunlich.
Immer wieder auch ein Hochstapler. »Wer ist Louis Büchner?«, fragt er an einem 9. April bei einem Gewährsmann brieflich an, erhält die Auskunft, wer dieser materialistische Philosoph sei, der jüngere Bruder Georg Büchners. Am 13. April schreibt Lassalle an Büchner, als »habe er jahrelang dessen Werk mit größtem Interesse verfolgt.«
Ein Leben ohne Vertrauen und Selbstvertrauen, mit allzuvielen Aufgaben, doch ohne eine wirkliche. Kaum eine seiner politischen Analysen, vor allem in der Außenpolitik, ließ sich verifizieren. Gewiß spielte bei Karl Marx der jüdische Selbsthaß eine Rolle, wenn Lassalle in den Briefen an Engels als »Junker Itzig« oder »Jüdel Braun« oder »Exzellenz Ephraim Gescheit« tituliert wird, allein hinzu kam vor allem das tiefe Mißtrauen des schwerfälligen Redners und gründlichen Gelehrten gegen Lassalles flüssige Diktion und ungenaue, nämlich nicht von sachlichem Eifer inspirierte Arbeitsweise. Der Respekt für die in Leben und Arbeiten durch Marx repräsentierte Würde und Geradlinigkeit war groß auch bei den Gegnern. Bismarck hat wohl nur halb spielerisch, wie Marx in den Briefen an Kugelmann berichtet, einen Korrumpierungsversuch unternommen. Er wußte, daß er scheitern würde. Mit Lassalle hat der preußische Ministerpräsident hingegen in Gesprächen und Polizeibescheiden vor dem dänischen Krieg von 1864, erst recht nach dem Sieg auf den Düppeler Schanzen, halb verächtlich als Katze mit der Maus gespielt. Dadurch bewußt mitgeholfen, weil die Beziehungen nicht geheim bleiben konnten, Lassalle als einen Mann ohne Grundsätze zu kompromittieren.
Der äußere Anlaß, der Lassalle am 24. Oktober 1863 zu einer Audienz bei Otto von Bismarck-Schönhausen veranlaßte, war in den Proportionen sonderbar genug. Lassalle kam als Befürworter des Allgemeinen Wahlrechts. Bismarck mochte damals daran interessiert sein, die Argumente zu hören. Vor allem aber brauchte Lassalle die polizeiliche Hilfe gegen eine Beschlagnahme seiner Broschüre auf den Wirtschaftsreformer des Kleinbürgertums Schulze-Delitzsch. Was Bismarck recht war, sogar zu dem zynischen Vorschlag veranlaßte: man könne die Staatsanwaltschaften offiziell benachrichtigen. Was nun Lassalle unmöglich zulassen konnte.
Dahinter stand Lassalles sonderbares Konzept eines Bündnisses von aristokratischem Obrigkeitsregime mit dem organisierten Proletariat: gegen Lassalles eigentliche Feinde im liberal-demokratischen Bürgertum. Solche Allianzen waren nicht ungewöhnlich: noch bei Franz Mehring lassen sich gelegentlich Spuren davon entdecken. Sie gehören zu Mehrings geheimem, doch lebenslangen Lassalleanismus. Daß der Verfasser der Broschüre gegen »Bastiat-Schulze«, der Befürworter einer solchen unheiligen Allianz aus Junker und Arbeiter, damit, trotz aller verbalen Gefügigkeit gegenüber dem Marxismus, alle Prinzipien des ›Kommunistischen Manifests‹ preisgab, ist evident.
Lassalle hat den jüdischen Selbsthaß nicht bloß gekannt, sondern auch als Agitation benutzt. Ein Literat, der Literaten haßte. Ein jüdischer Antisemit. Shylock, der Shylock denunziert.
[…]
Der Sohn des Heyman Lassalle aus Breslau und Schwager des jüdischen Kapitalisten Ferdinand Friedländer (auch eines der Haßobjekte für Heinrich Heine), des späteren geadelten Ritters Ferdinand von Friedland, hat diese existentiellen Widersprüche mit dem Leben bezahlt. In einem absurden Duell fiel er mit 39 Jahren. Kein russischer Aristokrat wie Puschkin oder Lermontow, deren Schicksal er teilte. Sondern ein jüdischer Parvenu, der zwar Arbeiterführer war, aber ein Adelstöchterlein heiraten wollte, Helene von Dönniges, doch vor der kaltblütigen Kompromittierung des Mädchens gut-bürgerlich zurückschrak, folglich abgewiesen wurde von einer Familie, die sich die Allianz mit dem anrüchigen Literaten nicht leisten konnte: war man doch selbst bloß Beamtenadel, die Mutter Dönniges zudem aus jüdischem Berliner Hause. Was Lassalle zur Werbung veranlaßte, war just, was auf der anderen Seite die Werbung scheitern ließ. Zwei Außenseiterpositionen gegeneinander gestellt. Die besser abgesicherte bekam den Sieg. Lassalle erhielt eine Kugel in den Unterleib; ein Bräutigam aus der Walachei, von Adel immerhin, dem sich Helene von Dönniges anverlobte, tötete Lassalle. Der lebte noch ein paar Tage nach dem Duell und starb am 31. August 1864 in Genf. Er wurde in aller Stille, sehr zur Erleichterung des Schwagers von Friedland, welcher Papiere vernichten ließ, im heimatlichen Breslau bestattet.
Ferdinand Lassalle gehört zusammen mit Heinrich Heine, James Rothschild, Benjamin Disraeli zu den Prototypen des bürgerlichen Shylock im 19. Jahrhundert. Kein jüdischer Künstler, Gelehrter, Schriftsteller entgeht in jener Ära der siegreichen Bourgeoisie und einer scheinbaren staatsbürgerlichen Egalität den inneren Widersprüchen aus abstrakter Emanzipationsforderung und realer Zerrissenheit. Alle individuellen Einordnungsversuche sind in ihrer Art typisch. Felix Mendelssohn-Bartholdys protestantische Innigkeit beim Komponieren des Oratoriums ›Paulus‹ und bei der hochherzigen Hilfe für den gefährdeten Robert Schumann. Was antisemitische Bemerkungen in den geheimen Tagebüchern von Robert und Clara nicht ausschließt. Der Internationalismus von Marx, gepaart mit jüdischem Selbsthaß: die Prosa der ›Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie‹ neben dem Text ›Zur Judenfrage‹. Ludwig Börnes demokratischer deutscher Patriotismus mitsamt seiner tief irritierten, den bedenklichen Außenseiter ablehnenden Polemik gegen Heine. Das Schwanken zwischen Internationalismus und Zionismus bei Moses Hess. Innige süddeutsche Dörflichkeit bei Berthold Auerbach. Die preußische lutherisch-adelsstolze Staatsphilosophie des Berliner Professors Friedrich Julius Stahl, den man im Dritten Reich plötzlich wieder als Joel Joelsohn zitierte. In alledem offenbart sich immer ein Zuviel. Hypertrophie der Bildung und des Besitzes, der Landschaftsschwärmerei, des Konservatismus, der Kirchenmusik, des Internationalismus, der Bürgerlichkeit wie der Gegenbürgerlichkeit.
Lord Rothschild, der es sich erlauben kann, sogar die Konzession des Glaubenswechsels abzulehnen. Lord Beaconsfield, der die Konservative Partei anführt, mit Herzögen vertraut ist, Liebling der Königin, doch Rothschild zum Testamentsvollstrecker einsetzt. Jacques Offenbach, welcher der Macht gleichzeitig aufspielt und den Endgalopp intoniert. Marcel Proust, zwischen dem Faubourg Saint-Germain und der Unterwelt, der alles durchschaut, auch sich selbst, indem er Charlus agieren läßt und Bloch. Hugo von Hofmannsthal, der in der Franziskanerkutte beigesetzt wird. Walther Rathenaus philosophischer Irrationalismus bei tatkräftigem kapitalistischem Organisationstalent. Die typischen Fälle der Allianz von jüdischen Millionen und preußischem, englischem, französischem Adel. Jedesmal das »strenge Glück« aus Thomas Manns epischer Komödie von der ›Königlichen Hoheit‹. Auch in seinem eigenen Falle der Einheirat in die bürgerstolze Familie Pringsheim in München: noch bei ihm daraufhin die antisemitische Schlußpointe in der Erstfassung der Erzählung vom ›Wälsungenblut‹.
Ferdinand Lassalle ist hier, weit mehr noch als Rothschild oder erst recht als Heinrich Heine, der vollkommene Phänotyp. Keiner hat mehr zur Fixierung des Bildes vom jüdischen, intellektuellen Abenteurer beigetragen. Lassalle war im allgemeinen Bewußtsein der Leser, ob Raabe das beabsichtigt haben mochte oder nicht, jener Moses Freudenstein, später Dr. Theophile Stein aus dem ›Hungerpastor‹. Von ähnlich prägender Kraft, in der Sache aber glücklicher, weil konzentrierter, ist in der skandinavischen Welt nur noch Georg Brandes gewesen. Auch ihn findet der Leser dänischer Literatur immer wieder: zum Schluß noch im 20. Jahrhundert in dem Roman vom Lykke Peer, dem Peter oder Hans im Glück, des dänischen Nobelpreisträgers Henrik Pontoppidan: nicht zufällig einem Lieblingsbuch des jungen Georg Lukàcs und des jungen Ernst Bloch.
Die bürgerlichen Phänotypen des Shylock im 19. Jahrhundert widerlegen Lessings hochherzige Prämisse: Emanzipation sei möglich durch Bildung und Besitz. Lichtenberg fühlte es anders, als er in London den Shylock auf der Bühne sah. Auch Moses Mendelssohn muß nicht bedenkenlos den Glaubensgenossen in hebräischer Sprache die Anpassung anempfohlen haben. Heine und Rothschild, Disraeli und Lassalle demonstrieren die unheilbare Provokation in der Bildung und im Besitz, in der konservativen wie in der sozialistischen Politik. Das 20. Jahrhundert sollte neue Phänotypen erzeugen: in der Boheme und in der Revolution.

So verhält es sich mit den Außenseitern: Sie sollten nie versuchen, den sozialen Mangel ihres Außenseitertums durch Dinge wie Bildung und Besitz, sofern dies die Fähigkeiten der sozialen Umgebung übertrumpft, zu erreichen suchen, das wird sie noch mehr in die Außenseiterrolle drängen, sofern sie nicht das Zeugs zum Genie oder Multimillionär haben.


breslau_zwerg_1600Die Breslauer Zwerge

Wer dem Link in der Überschrift gefolgt ist, dem muß ich nichts zu Herkunft und Geschichte der kleinen Kobolde erzählen. Wer immer durch die Altstadt als Hans-Guck-in die Luft nur auf auf die beeindruckend abwechslungsreichen Fassaden und das Benimm der Einwohner und vielen Besucher Breslaus achtet, der kann sehr schnell Bekanntschaft mit einem dieser Stolpersteinen der politischen Wende in Polen, die immerhin, trotz aller Rückschläge, zehn Jahre früher als in der DDR begann, machen. Keine Angst, sie sind nicht so hinterhältig angebracht wie unsere Stolpersteine des verspäteten, schlechten Gewissens der guten Deutschen, daß man sie übersehen könnte. Irgendwer macht einem schon auf sie aufmerksam, falls man wirklich blind durch Breslau stolpert. Man findet sie an der sonderbarsten Stellen über die Stadt verteilt und es wäre sicherlich ein ebenso himmlisches Vergnügen wie Geotracking, sich beim nächsten Besuch Breslaus vorzunehmen, alle Zwerge Breslaus (es sind inzwischen über zweihundert) zu finden. Wäre wohl auch eine schöne Art, um Breslau kennen zu lernen, gelle? Und überhaupt, das Finden soll auch über Geotracking möglich sein.

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