Dargomyschski, Alexander Sergejewitsch

Alexander Sergejewitsch Dargomyschski (russisch Александр Сергеевич Даргомыжский, wiss. Transliteration: Aleksandr Sergeevič Dargomyžskij; * 2.jul./ 14. Februar 1813greg. in Dargomysch im Gouvernement Tula; † 5. Januarjul./ 17. Januar 1869greg. in Sankt Petersburg) war ein russischer Komponist. Dargomyschski gilt mit Recht als einer der würdigsten Repräsentanten der national-russischen Oper und hat zu deren Ausbildung wesentlich beigetragen. Er schrieb Orchesterwerke, Opern und Lieder, die einen ausgeprägt nationalen und realistischen Charakter tragen.

Titel und Link zum YouTube-Video: Interpretation durch:
Baba-Jaga (1862), Bearbeitung für Orgel solo, nach der Fassung des Komponisten für 2 Klaviere. MIDI (Vienna Konzerthaus Organ) 

Über sein Leben

Zitat aus
ALEXANDER VON ANDREEVSKY
DILETTANTEN UND GENIES
GESCHICHTE DER RUSSISCHEN MUSIK

Der Dritte im Schatten von zwei Großen
Im schicksalsschweren Jahre der Befreiung Europas vom Joch des korsischen Eroberers – 1813 – wurden die zwei größten Meister der dramatischen Musik, Richard Wagner in Deutschland und Giuseppe Verdi in Italien, geboren. Ist es nicht eine seltsame Fügung des ewig rätselhaften Schicksals, dass in demselben Jahr im fernen Russland ein Junge das Licht der Welt erblickte, der als reifer Mann und genialer Musikdilettant sich gleichfalls mit dem Problem des musikalischen Dramas, so wie er es verstand, ohne jede Berührung mit europäischen Tendenzen beschäftigen sollte und damit nach seinem Tode einer programmatischen Richtung den Weg wies? Dieser Dritte war Alexander Sergejewitsch Dargomyschski (2. Februar 1813). Er war der Sohn eines adeligen Gutsherrn in der Nähe des Geburtsortes Glinkas im Gouvernement von Smolensk und dessen Frau, der Tochter des Fürsten Koslowsky. Dargomyschski sollte der erste russische Komponist werden, der die Bedeutung des Wortes und der dramatischen Handlung in der Oper erkannt hat. Diese in der russischen Musik ganz neuartige Auffassung drückt seinem ganzen Schaffen den Stempel einer reformatorischen Tat auf, auch wenn der gute Wille stärker war als das Ergebnis.
Bis zum Alter von fünf Jahren blieb der kleine Alexander stumm, was den Eltern nicht wenig Sorge bereitete, dann aber entpuppte er sich als ein musikalisches Wunderkind. Er spielte mit sechs Jahren Klavier nach dem Gehör und schwärmte nur für Musik.
In Petersburg, wo sich die Familie Dargomyschski inzwischen niedergelassen hatte, sollte ihm ein junges Mädchen mit dem etwas operettenhaft anmutenden Namen Luise Wohlgeborn die erste Ausbildung geben. Die hübsche junge Dame gewann ihren Schüler so lieb, dass sie ihn dauernd abküsste, ohne sich viel um die Musikstunden zu kümmern. Wie dem auch sei: bei seiner ersten Lehrerin hat Dargomyschski so gut wie gar nichts gelernt, wie er selbst in seiner Autobiographie erzählt.
Ganz anders gestaltete sich dagegen der Musikunterricht des nunmehr Siebenjährigen bei dem gebildeten Theoretiker Adrian Danilewsky. Der Schüler vertiefte sich in Diskussionen über Musikfragen mit dem Lehrer, der jedoch darüber keineswegs erbaut war. Der Kleine pflegte auch mit unbegreiflicher Hartnäckigkeit Sonaten und andere Klavierstücke zu komponieren; Danilewsky aber reagierte auf diesen Schaffensdrang damit, dass er sämtliche Skizzen des ungewöhnlich begabten Schülers vernichtete.
Als Dargomyschski zwölf Jahre alt war, ging er zu dem bekannten Schoberlechner, einem Deutschen, der von Hummel geschult worden war, in die Lehre. Mit siebzehn Jahren war er ein vollendeter Pianist. Dennoch durfte er nicht daran denken, Berufsmusiker zu werden. Das war für den Spross einer adligen Familie in Russland, wie wir wissen, selbstverständlich unmöglich. Er musste wie so viele seiner musikalischen Vorgänger Beamter werden. Dank den guten Beziehungen des Vaters durfte er in das feudale Ministerium des kaiserlichen Hofs als Titularrat eintreten. Zu dieser Zeit lernte er den Mann kennen, den er mit unfehlbarem Gefühl als den größten russischen Musiker verehrte – Glinka.
Eines Tages erschien bei diesem ein junger Mann von kleinem Wuchs in einem blauen Frack und einer roten Weste. Seine Stimme ging in einen hohen Sopran über. Als der sonderbare Besucher, den ein Freund Glinkas, Sänger und Musikliebhaber, mitgebracht hatte, sich ans Klavier setzte, entpuppte er sich als ein ausgezeichneter „Fortepianist“. Es war Dargomyschski.
Glinka war gerade bei der Instrumentierung der Oper „Das Leben für den Zaren“. Dargomyschski durfte einen Blick in die Partiturblätter werfen. Das genügte, um ihn, gewissenhaft wie er war, davon zu überzeugen, dass seine Kenntnisse auf diesem Gebiete viele Lücken aufwiesen. Nun hatte aber Glinka das Manuskript seines Lehrers Dehn, der eigens für ihn ein Handbuch der Musiktheorie verfasst hatte, bei der Hand. Aus diesen Blättern durfte auch Dargomyschski lernen. So geschah es, dass durch die Vermittlung des deutschen Musiktheoretikers im fernen Berlin ein zweiter russischer Komponist sich in die Geheimnisse des Generalbasses und des Kontrapunkts versenken konnte. Bei seiner Begabung fiel Dargomyschski die Arbeit nicht allzu schwer, zumal er Noten wie Buchstaben lesen konnte.
Nachdem Dargomyschski – wie es sich gehörte – einige Romanzen komponiert hatte, entschloss er sich, seine Kräfte an einer Oper zu versuchen.

Lucrezia Borgia oder Esmeralda?
Seltsamerweise waren es zunächst fremde Sujets, die den in jeder Beziehung russisch empfindenden Dargomyschski lockten. Zuerst dachte er an „Lucrezia Borgia“, das bekannte Drama des Franzosen Victor Hugo. Dieser Wunsch hatte seine gewichtigen Gründe. Dargomyschski fühlte sich von dem stark dramatischen Stoff angezogen. Er wollte auch die Deklamation dramatisch gestalten. „Der Klang muss das Wort ausdrücken“, pflegte er schon als junger Musiker zu sagen. Das war eine in der russischen Musik ganz neue Einstellung von allergrößter Bedeutung.
Nachdem Dargomyschski einige Fragmente der „Lucrezia Borgia“ komponiert hatte, fiel ihm ein Buch in die Hände – gleichfalls von Victor Hugo -, das ihm als Sujet noch geeigneter erschien: „Der Glöckner von Notre Dame.“ Inzwischen hatte er die Oper „Das Leben für den Zaren“ erlebt und war von ihr begeistert. Mit untrügbarem Instinkt stellte er fest: „Ein originelles Meisterwerk, das so viel Schönheiten enthält, dass man manche Fehler gar nicht sehen möchte. Dennoch muss ich gestehen, dass der Oper die dramatische Wahrheit fehlt.“
Die Arbeit an der „Esmeralda“ ging schnell vor sich. Im Jahre 1830 war die Oper beendet und wurde der Intendanz der Hoftheater in St. Petersburg vorgelegt. Der Komponist ahnte nicht, wie lange er warten sollte, bis die Uraufführung stattfinden konnte. Offiziell war die Oper angenommen, jedoch herrschte ein solcher Schlendrian, dass angenommene Werke manchmal Jahrzehnte auf ihre Aufführung warten mussten.
Schon war Glinkas „Ruslan und Ludmilla“ aus der Taufe gehoben. Dargomyschski gehörte zu den wenigen aufrichtigen Verehrern des neuartigen Werks. Mit verbissenen Zähnen wartete er auf die Premiere seiner „Esmeralda“. Die Intendanz hatte immer gute Ausreden. Einmal waren die Bühnenbilder nicht fertig, ein andermal fehlte es an Geld, um anständige Kostüme anzuschaffen, und dergleichen mehr.
Man schrieb bereits das Jahr 1844. Was tat der unglückselige Komponist? Er gab – unentgeltlich! – Gesangunterricht, wurde eine bekannte Persönlichkeit in musikalischen Kreisen von Petersburg, komponierte Romanzen und litt im geheimen. Seine Romanzen waren bald in allen Salons beliebt. Sie standen auch himmelhoch über den Produkten des musikalischen Dilettantismus, vor allem dank der Behandlung des Wortes. Bei Dargomyschski wirkte die Deklamation durch ihre Natürlichkeit und durch die Echtheit des Ausdrucks, auch wenn die melodische Erfindung im Vergleich zu Glinka nicht allzu stark war.
Eines Tages entschloss sich Dargomyschski, eine Auslandsreise zu unternehmen, zumal auch sein älterer Freund und Berater Glinka sich im Ausland befand. Die Absicht war, auf irgendwelche Weise im Auslande von sich als Komponisten reden zu machen, was die Chancen der baldigen Uraufführung der Esmeralda zweifellos heben sollte. An einem herbstklaren Septembertag des Jahres 1844 verließ er Petersburg. Paris war das lockende Ziel seiner Reise.

Enttäuschung in Paris?
Paris galt in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts als das Zentrum jeglicher Kunst in Europa. Hatte die Seinestadt den jungen Richard Wagner nicht auch seinerzeit angezogen? Die Pariser Große Oper war in den Augen der Welt ein Wahrzeichen der Opernkunst, und die Konzerte des Pariser Konservatoriums hatten den Ruf der vorbildlichsten Musikveranstaltungen des ganzen Erdballs. Außerdem thronten in Paris die Vertreter der alleinseligmachenden französischen Literatur.
Nun, Dargomyschski sollte bald eines Besseren belehrt werden. Schon die berühmten französischen humoristischen Zeitungen – „Charivari“, „Corsaire“, „Tintamarre“ -, die er beim Frühstück im Cafe las, erregten bald seinen Widerwillen. „In diesen Zeitungen“, schrieb Dargomyschski seinem Vater, „wird alles, was es gibt, ausgelacht. Sie sind mit einem dummen, wenn auch komischen Geschimpfe über alles ohne Unterschied ausgefüllt.“
Mit dem Gefühl größter Ehrfurcht ging Dargomyschski in die Große Oper, wo immer noch die Kunst Meyerbeers herrschte.
Es zeugt für seinen künstlerischen Scharfblick, dass er die Flachheit dieser modisch-oberflächlichen Kunst sofort erkannte. „In den Hugenotten“, schreibt er, „ist die Bosheit des Katholizismus ausgezeichnet ausgedrückt. Das ist etwas Satanisches, das auch Meyerbeer verwandt ist. Die dramatischen Szenen sind lärmend und kompliziert, jedoch weit von der Wahrheit entfernt. Ich saß in der Oper mit dem Textbuch in der Hand. Ich kannte jeden dramatischen Auftritt. Während ich die musikalische Ausführung hörte, fand ich keine einzige Idee, die aus innerer Leidenschaft gestaltet wäre. Meisterschaft und Verstand sind außerordentlich, jedoch können keine Meisterschaft und kein Verstand das menschliche Herz allein bezwingen.“
Von der Großen Oper heißt es: „Die französische Große Oper kann man mit den Ruinen eines großartigen antiken Tempels vergleichen. Bei ihrem Anblick kann der Künstler sich die Majestät und die Schönheit des Tempels vorstellen, jedoch der Tempel ist nicht mehr vorhanden. Indem ich die Sänger und den vollen Klang des Orchesters der Großen Oper höre, kann ich mir vorstellen, wie es ehedem war. Ich kann mir denken, dass die französische Oper sich früher mit der italienischen Oper messen konnte und sie sogar überflügelt hat. Und dennoch kann ich das nur auf Grund der Ruinen feststellen. Heute sind die Aufführungen beinahe mittelmäßig. Das Ensemble ist nicht so, wie es sein sollte. Das Orchester ist nicht immer gleichmäßig, wenn es auch im Allgemeinen richtig spielt.“
Auch von der weltberühmten italienischen Oper in Paris war Dargomyschski nicht wenig enttäuscht. Der Tenor Mario war freilich auf der Höhe, die anderen Sänger dagegen ließen zu wünschen übrig. Sie waren ausgesungen und ihre unnatürlich pathetische Darstellungsart hatte nichts Künstlerisches an sich.
Und das Schauspiel? Ein Stück, das „Iwan, der Mujik“ hieß und das im Théâtre Gymnase allabendlich ein ausverkauftes Haus hatte, erwies sich als eine unmögliche Verbalhornung der russischen Sitten, worüber Dargomyschski nicht wenig empört war.
Der einzige Trost in der Fremde war der freundschaftliche Verkehr mit Glinka, der sich in Paris sehr wohlfühlte. Die Neujahrsnacht des Jahres 1845 verlebte Dargomyschski in recht angeregter Stimmung in dessen Gesellschaft. Geistreich humoristisch berichtete er darüber seinem Vater: „Silvester verbrachte ich, wenn nicht sehr lustig, so wenigstens sehr lebhaft. Ich war auf einem Ball bei Glinka. Seine lieben Schülerinnen und einige aus Petersburg zurückgekehrte Französinnen tranken mit uns Punsch und Champagner. Die Tänze waren sehr animiert. Als Kavaliere fungierten meistens ältere russische Herren. Ich muss schon sagen: Ältere Herren mit Geld genießen ihr Leben in Paris wie Götter auf dem Olymp. Die Französinnen überzeugen sie davon, dass sie im besten Mannesalter stehen, ziehen sie wie Modegecken an, nötigen ihnen weiße Handschuhe auf und schleppen sie mit sich in Caféhäuser und Theater. Auf diejenigen, die sehr freigebig sind, können die Schönen manchmal sogar eifersüchtig sein. Unter anderen Damen traf ich bei Glinka Madame Désirée Mayer, die bei uns Schauspielerin und Maskeradedame gewesen ist. Sie ist von Russland entzückt wie ich vom Konservatoriumskonzert in Paris, lobt die Russen über alles und singt russische Lieder. Ich habe mit ihr mit großem Effekt einen russischen Tanz zum Besten gegeben. Man sagt, es wäre sehr rührend gewesen. Ich kam um zwei Uhr nachts heim. Das war das erste Mal; denn sonst bin ich schon vor zwölf Uhr zu Hause.“ In Konzerten des Konservatoriums hörte er Beethovensche Symphonien, die in der Tat sehr gut aufgeführt wurden, was auch Richard Wagner, der einige Jahre früher Paris verlassen hatte, bestätigt.
Dargomyschski fühlte, dass er in Paris trotz aller Zeichen äußerer Achtung von den musikalischen Kollegen über die Achsel angesehen wurde. Ein Franzose fragte ihn: „Wie ist es möglich, dass Sie im barbarischen Russland Musik studieren konnten?“
Der russische Musiker war dagegen erstaunt, dass die Franzosen Beethoven spielen konnten. „Die Franzosen sind“, schreibt er seinem Vater, „das unmusikalischste Volk der Welt. Sie werden niemals wissen, was ein klangvoller Vers ist, da ihre Verse gar keinen Rhythmus haben. Deshalb ist es erstaunlich, dass sie Beethoven so vollendet spielen können. Andererseits erfahre ich, dass sie im Laufe von fünfzehn Jahren immer wieder dieselben Symphonien durchnehmen und auch aufführen.“
Im Februar desselben Jahres verließ Dargomyschski Paris und fuhr nach Brüssel, wo er bereits auf der Durchreise den bekannten Musikschriftsteller Fétis, Direktor des Konservatoriums, kennen gelernt hatte. Dieser hatte die Begabung des Komponisten aus dem „barbarischen Norden“ sofort erkannt. Jedenfalls nahm Dargomyschski aus Brüssel angenehmere Eindrücke mit nach Hause als aus Paris, da er bei Fétis ein gewisses Verständnis für seine musikalische Richtung gefunden hatte.
Von Brüssel ging es nach Wien. Dort traf Dargomyschski unerwarteterweise einen Bekannten, einen ehemaligen russischen Offizier griechischer Herkunft, den Fürsten Kastrioto-Skanderbeg, der ein großer Musikliebhaber und im Besitz einer gutgepflegten Stimme war. Kastrioto war Mitglied des Wiener Künstlervereins Concordia und hatte viele Bekannte in Wiener Musikkreisen. Er führte Dargomyschski in die musikliebende Wiener Gesellschaft ein, wo dieser zahlreiche interessante Persönlichkeiten kennen lernte. Zugleich hatte Dargomyschski Gelegenheit, die Wiener Hofoper zu besuchen, die ihm im Vergleich zu Paris als ein wahrer Musentempel erscheinen musste.
Nach Russland zurückgekehrt, schrieb Dargomyschski seinem Freund Kastrioto, der immer noch in Wien weilte: „Ich gebe Dir den guten Rat, in Europa bis zum Herbst herumzuwandern. Im Winter aber komme zu uns nach Petersburg. Eine halbjährige Reise wird Dir wohl genügen, um Dich davon zu überzeugen, dass es in der Welt kein Volk gibt, das besser wäre als das russische, und dass, wenn es in Europa Elemente der Poesie gibt, so nur in Russland.“
Genau wie Glinka beschloss nun auch Dargomyschski im Ausland, eine nationale Oper zu komponieren: Die „Russalka“.

Neue Enttäuschungen
In arbeitsfreudiger Stimmung kehrte Dargomyschski heim und erfuhr zu seiner großen und angenehmen Überraschung, dass endlich seine „Esmeralda“ aus der Taufe gehoben werden sollte. In der Tat: am 5. Dezember 1847 fand die nach Moskau verlegte Uraufführung in der Hofoper statt.
Was die Musik der „Esmeralda“ betrifft, so war sie zunächst noch stark von dem herrschenden Stil der französischen Schule Aubers und Meyerbeers beeinflusst. Der wahre Stil Dargomyschskis kam noch kaum zum Ausdruck. Der Erfolg beim Publikum war aber sehr groß. Umso erstaunlicher erscheint es, dass die Oper bald abgesetzt wurde.
Dargomyschski hatte inzwischen ein neues Werk komponiert, eine „Ballettoper“ nach einem Gedicht von Puschkin unter dem Titel „Der Triumph des Bacchus“. Nach dem Publikumserfolg der „Esmeralda“ in Moskau reichte Dargomyschski die neue Oper bei der Hoftheaterintendanz in Petersburg ein. Die Oper wurde ohne jede Begründung abgelehnt.
Gewissermaßen als Trost für die brüske Ablehnung wurde die „Esmeralda“ in Petersburg angenommen. Im Jahre 1851 erschien sie in denkbar miserabler Ausstattung und in schlechter Besetzung. Die besten italienischen Sänger des in Petersburg gastierenden Ensembles versicherten aber Dargomyschski, dass ihnen die Oper gefallen habe. Der weltberühmte Tenor Tamburini war sogar entschlossen, sie bei seiner Benefizvorstellung aufzuführen. Dargomyschski war jedoch vom Pech verfolgt. Die Direktion der italienischen Oper weigerte sich, das Werk eines Russen anzunehmen.
Die Stimmung Dargomyschskis verschlechterte sich von Tag zu Tag. Verbittert zog er sich vom öffentlichen Musikleben zurück. In seinem gastfreundlichen Hause versammelten sich aber aufrichtige Freunde seiner Kunst. Meistens waren es junge Damen, die er – ritterlich, wie er war – unentgeltlich in Gesang unterrichtete. Ohne jemals eine große Leidenschaft zu haben, war Dargomyschski ein flammender Verehrer des schönen Geschlechts. Er liebte es, von hübschen jungen Damen umringt zu sein. Als sein Freund ihn einmal darauf aufmerksam machte, dass eine von seinen Lieblingsschülerinnen scheußlich falsch sang, erwidert er: „Wieso falsch? Sie ist ja bildhübsch!“
Dargomyschski rühmte sich damit, dass es unter den Sängerinnen der Petersburger Salons, die übrigens manchmal sehr tüchtig waren, keine einzige gab, die nicht bei ihm Unterricht genommen hatte. Konnten aber diese gesellschaftlichmusikalischen Erfolge den Komponisten dafür entschädigen, dass seine „Esmeralda“ nach nur drei Aufführungen vom Spielplan der Petersburger Oper endgültig in der Versenkung verschwand?
Von welch hohem Ethos die Kunstauffassung Dargomyschskis trotz aller Enttäuschungen beseelt war, geht aus einer brieflichen Äußerung hervor, die der Komponist dem Musikliebhaber W. Kaschperow gegenüber machte, der nach Berlin gefahren war, um dort zu studieren: „Ich schreibe Ihnen das, was ich Ihnen schon damals gesagt habe: Solange das Ziel Ihres Studiums die Kunst ist, will ich Sie von ganzer Seele unterstützen, um so mehr, als der erste Schritt, den Sie getan haben, erwarten lässt, dass Sie zum mindesten das Gute in der Musik empfinden. Außer Freude werden Sie auf diesem Weg nichts erleben. Wenn aber Ihr Ziel ist, aus der Kunst ein Mittel zu machen, um Ruhm und Ehre zu erringen, so rate ich Ihnen – gleichfalls von ganzer Seele – vom Musikschaffen ab, nicht weil ich es für unmöglich halte, dass Sie berühmt werden könnten – wer kann in der Zukunft lesen? -, jedoch aus innerster Überzeugung, dass alle Berufenen, die in den schönen Künsten sich einen Ehrennamen gemacht haben, ihn eben deshalb erringen konnten, weil sie nur die Kunst im Auge hatten und sich um den Ruhm gar nicht kümmerten. Der Ruhm ist die Stimme des Volkes und demnach die Stimme Gottes. Ich kann mich irren, jedoch glaube ich, dass der wahre Künstler dasselbe ist wie ein Prophet, wenn auch in einer anderen Sphäre. Sowohl der eine als auch der andere sind nichts als Werkzeuge der Vorsehung. Wie der Prophet Minuten und Stunden der Inspiration erlebt, um der Menschheit alles Hohe der göttlichen Welt zu verkünden, so hat auch der Künstler solche Stunden, um den Menschen das Schöne und Gute dieser Welt zu offenbaren. Sind die Stunden dieser Inspiration vorbei, dann verwandeln sich der Prophet und der Künstler in gewöhnliche Menschen. Sie wissen selbst nicht, wann und in welchem Maße sie diese göttlichen Minuten wieder erleben werden. Deshalb sind diejenigen lächerlich, die ihre Inspiration suchen. Noch lächerlicher und erbärmlicher erscheinen mir diejenigen, die dem Ruhm nachjagen.“
Der im Ausland gefasste Gedanke, eine russische Nationaloper zu komponieren, war bei Dargomyschski inzwischen gereift. Der Komponist schrieb seinem Freund Skanderbeg: „Du interessierst Dich, zu erfahren, was ich tue? Ich arbeite, Brüderchen, und arbeite immer wieder. Das Publikum hat mich zwar gelehrt, meine Werke nicht zu verlegen. Das Arbeiten aber hat es mir nicht abgewöhnen können. Ich gehe jetzt an die „Russalka“ heran, aus der ich Dir einige Nummern bereits vorgespielt habe. Was mich am meisten quält, ist das Textbuch. Stelle dir vor, ich schreibe die Verse selbst. Unsere Dichter wollen alle Genies sein. Es gibt keinen einzigen, der Talent hätte wie Du oder ich. Es ist unmöglich, mit ihnen umzugehen. Sie betrachten einen verächtlich von oben herab.“
Die Arbeit ging mit Unterbrechungen vor sich. Stunden der Enttäuschung wechselten mit Augenblicken gehobenster Stimmung. Endlich – man schrieb bereits das Jahr 1855 – war die Oper fertig. Die „Russalka“ wurde von der Hofoper in Petersburg zur Uraufführung angenommen.

Eine russische Undine
Es war ein Drama Puschkins in Versen, das Dargomyschski für seine Oper, ohne viel am Text zu ändern, benutzte. Zum zweiten Mal wurde von einem russischen Komponisten ein Puschkin-Text vertont. Der erste war Glinkas „Ruslan“. Dargomyschski ging aber ganz anders ans Werk als sein Vorgänger, der sich nicht viel aus den Worten in der Oper gemacht hatte. Mit größter Sorgfalt formte er sein Textbuch, das man zweifellos als vorbildlich bezeichnen kann. Das Stück, wenn es auch nicht historisch ist, spielt in unverfälscht russischem Milieu.
Dies ist der Inhalt der Oper: Die Tochter des Müllers, bei Puschkin ohne Namen, von Dargomyschski Natascha getauft, wartete auf ihren Geliebten, einen Fürsten, der sich gegen seine Gewohnheit lange nicht blicken hat lassen. Der Fürst, vom Müller, der sich auf die Geschenke des großzügigen Liebhabers freut, unterwürfig begrüßt, erscheint. Er erklärt, dass die Stunde der Trennung geschlagen habe; Fürsten seien in ihrer Liebe nicht frei; er müsse eine standesgemäße Ehe mit einem ungeliebten Mädchen eingehen. Nach dem Abschied vom treulosen Geliebten, von dem Natascha ein Kind unter dem Herzen trägt, stürzt sich die Verzweifelte in den Fluss. Während der festlich rauschenden Hochzeit des Fürsten ertönt, von Nataschas Stimme gesungen, ein trauriges Lied, das große Bestürzung unter den lustig tafelnden Gästen hervorruft. Es gelingt nicht, die unsichtbare Sängerin zu entdecken. Das gestörte Hochzeitsfest geht weiter. Von Reue getrieben, sucht der Fürst nach einigen Jahren die Mühle auf, die inzwischen verfallen ist. In Erinnerungen versunken, gedenkt er der Tage des ungetrübten Liebesglücks. Der alte Müller, vor Gram wahnsinnig geworden, taucht als jämmerliche Gestalt im Mondenschein gespenstisch auf. Es ist ein tragischer Auftritt von wahrhaft shakespearescher Dämonie. Nixenreigen im Fluss, in dem auch der Fürst seinen Untergang findet. Das Finale spielt wie in Lortzings „Undine“ im Reiche des Wasserfürsten, wo man das Liebespaar glücklich vereint sieht.
Das Ganze ist also eine Variation des bekannten Undinemotivs. Neu ist bei Dargomyschski die musikdramatische Gestaltung. Die Melodie wird aus dem Tonfall und dem Rhythmus der russischen Sprache hergeleitet. Das Wort und nicht die musikalische Erfindung an sich ist das primäre Element, wodurch eine natürliche, der musikalischen Sprache eigene Melodik entsteht. Die Rezitative sind nicht mehr von den Gesangsnummern getrennt, sondern mit ihnen verbunden. Dargomyschski nennt seinen Stil einen „arios-rezitativischen“. Wir möchten ihn als melodischen Sprechgesang bezeichnen. In der dramatischen Gestaltung des Gesanges liegt auch Dargomyschskis eigentliche Stärke. In der Instrumentierung und in der Behandlung des Orchesters, die einigermaßen farblos und wenig persönlich sind, bleibt der Komponist dagegen weit hinter Glinkas Meisterschaft zurück. Von den Gesangsnummern wurde die Cavatine des Fürsten mit ihrer breiten lyrisch-weichen Melodie in ganz Russland bald volkstümlich.
Am 3. Mai 1856 wurde das neuartige Werk auf der Bühne der Petersburger Hofoper zum klingenden Leben erweckt. Die Intendanz hatte sich aber nicht die geringste Mühe gegeben, die Oper anständig zu inszenieren. Im Gegenteil, die Ausstattung erregte Dargomyschskis helle Empörung. Die Dekorationen waren alt und zerschlissen. Bei der Hochzeit des Fürsten brannten sechs Kerzen. Die Kostüme waren der Requisitenkammer entlehnt, nachdem sie über hundertmal in einem historischen Stück getragen worden waren. Die prunkvoll sein sollenden Gewänder der Hochzeitsgäste waren zum größten Teil gestopft und zusammengesucht. Noch schlimmer war das romantisch gedachte Bild des Finales. An Stelle eines graziösen Reigens der Wassernixen sah man zwei Seeungeheuer, die die Leiche des Fürsten schleppten. Die Ungeheuer hatten Menschenköpfe mit Backenbärten, angeschraubt an Fischleiber. Es mutete wie ein grotesker Witz an, dass ein Kopf eine fatale Ähnlichkeit mit dem Intendanten der Hofoper Gedeonow hatte, was beim Publikum Lachsalven entfesselte!
Dargomyschski war, genau wie Glinka, bei der Intendanz der Petersburger Hofoper aus unbegreiflichen Gründen unbeliebt. Man traute sich nicht, sein Werk abzulehnen, spielte es aber in einer Inszenierung, die der Oper, wenn sie vom Publikum nicht so warm aufgenommen worden wäre, hätte tödlich werden können.
Dargomyschski schreibt in einem Brief über seine Stellung im Petersburger Musikleben folgendes: „Ich irre mich nicht, wenn ich sage, dass meine künstlerische Stellung in Petersburg unerfreulich ist. Die meisten unserer Musikliebhaber und Zeitungsskribenten sehen bei mir keine Inspiration. Ihr routinierter Geschmack sucht ohrenschmeichelnde Melodien. denen ich nicht nachjage. Ich will, dass der Klang das Wort unmittelbar ausdrückt. Ich suche die Wahrheit. Das wollen sie nicht begreifen. Meine Beziehungen zu den hiesigen Musikkennern und zu den talentlosen Komponisten sind noch trauriger, weil sie zweideutig sind. Die Art dieser Herren ist bekannt: sie loben vorbehaltlos die Werke verstorbener Komponisten, um den Lebenden keine Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.‘
Und dennoch: das Publikum strömte zu den Aufführungen der „Russalka“ weil es fühlte, dass es ein Werk war, das einen neuen Weg, den kompromisslosen Weg der dramatischen Wahrheit suchte.
In das Jahr der Uraufführung der „Russalka“ fällt auch die Bekanntschaft Dargomyschskis mit mehreren jungen Leuten, denen es bestimmt war, eine ausschlaggebende Rolle in der Entwicklung der russischen Musik zu spielen. Es waren: der junge Fähnrich des Preobraschensky-Garderegiments Mussorgski, der Marineleutnant Rimski-Korsakow und der Medizinstudent Borodin. Diese Himmelsstürmer waren von dem Werk Dargomyschskis ehrlich begeistert; denn sie sahen in ihm eine Kampfansage gegen die alleinherrschende italienische Oper, die ihnen verhasst war.
Aber auch Wagner wurde von den jungen Leuten, die in der echt russischen Kunst das Alleinheil sahen, abgelehnt. Seltsamerweise hatte Dargomyschski, dessen Auffassung vom musikalischen Drama den Gedanken Wagners ähnlich war, kein allzu großes Verständnis für die Reform des deutschen Dichterkomponisten, in dessen Geburtsjahr auch er geboren war.
In einem Brief finden wir die einzige schriftliche Äußerung Dargomyschskis über Wagner: „Es ist wahr, es ist viel Poesie in dem bühnenmäßigen Aufbau des Textbuches. In der Musik zeigt Wagner einen neuen und vernünftigen Weg. Jedoch spürt man in der unnatürlichen Gesangsart und in den pfefferigen, wenn auch stellenweise sehr interessanten Harmonien so etwas wie Leiden. Er will und kann nicht! Die Wahrheit ist gut. Man muss aber auch Geschmack haben.“ So hatte Wagner vor den Augen des ersten russischen Musikdramatikers keine Gnade gefunden.
Auch die „Russalka“ wurde – mit noch weniger Begründung als die „Esmeralda“ – vom Spielplan abgesetzt. Erst zehn Jahre später entschloss sich die Hoftheaterintendanz in Petersburg, Dargomyschskis Oper neueinstudiert herauszubringen. Die unmögliche Inszenierung blieb jedoch. Diesmal hatte das Werk einen geradezu stürmischen Erfolg. Die „Russalka“ wurde die Lieblingsoper des Petersburger Publikums.
Dargomyschski war inzwischen dreiundfünfzig Jahre alt geworden.

Erster russischer Musikerfolg im Ausland
Zum zweiten Mal begab sich Dargomyschski im Jahre 1864 ins Ausland. Über Berlin fuhr er nach Brüssel. Der erste Kapellmeister der Belgischen Musikgesellschaft, Hansens, sagte zu dem russischen Komponisten, von dem er schon gehört hatte: „Mein Herr, wenn Sie eine Komposition haben, die Sie hier aufführen möchten, dann geben Sie das Werk mir. Wir werden glücklich sein, es in unserem ersten Konzert aufzuführen.“
Der russische Komponist war nicht wenig erstaunt, als der Inhaber des Klaviergeschäfts, bei dem er ein Klavier mieten wollte, ihn mit „Meister“ anredete. Auch er hatte von Dargomyschski gehört und weigerte sich, von dem Russen Geld für die Miete des Klaviers anzunehmen. Diese Wahrnehmung war Dargomyschski umso angenehmer, als er sich in seiner Heimat immer noch irgendwie verkannt fühlte.
Zunächst erklärte sich Kapellmeister Hansens bereit, einige Musikstücke Dargomyschskis in einer Probe eines Konzerts aufzuführen. Dargomyschski wollte nicht glauben, dass man nur für ihn eine Probe angesetzt hatte. Ein Bekannter, ein Kontrabassist des Orchesters, bestätigte ihm jedoch, dass man tatsächlich die Musiker nur bestellt habe, um zwei Stücke von ihm zu probieren.
Am Vormittag eines nebligen Dezembertages des Jahres 1864 begab sich Dargomyschski in den Konzertsaal. Achtzig Musiker waren versammelt. Die Besetzung der Streicher ließ den Russen, der an solche Üppigkeit nicht gewöhnt war, staunen: 20 erste Geigen, 16 zweite Geigen, 10 Bratschen und 10 Kontrabässe. Kapellmeister Hansens klopfte an sein Pult, und die ersten Klänge der Ouvertüre zu der „Russalka“ ertönten. Nach Beendigung des Stückes klatschten die Musiker Beifall. Der Kapellmeister rief aus: „Das ist teuflisch-famos!“ Die Ouvertüre wurde dreimal wiederholt. Der Erfolg bei den Musikern steigerte sich von Mal zu Mal. Es folgte ein Kosakentanz „Kasatschok“. Wieder der gleiche Erfolg. Die Begeisterung der Musiker ging in nahezu hysterische Lachkrämpfe über, so ungewohnt war ihnen der feurige Rhythmus des wilden Kosakentanzes.
Nach diesem beispiellosen Erfolg einer fremdartigen Kunst entschloss sich Hansens, die Musikstücke öffentlich aufzuführen.
Der Bericht über die geglückte Probe und die Ankündigung des Konzerts in der Brüsseler Zeitung „Etoile Belge“ lautete:
„Am Sonnabend fand im Saale der Gesellschaft ‚Die große Harmonie‘ eine der interessantesten musikalischen Veranstaltungen der Saison statt. Mit seinem gewohnten Wohlwollen gegenüber großen Künstlern hat Herr Hansens eine ganze Probe der Aufführung von Kompositionen des Herrn Alexander Dargomyschski gewidmet, des einzigen gegenwärtigen Vertreters russischer Musik. Der Erfolg des Herrn Dargomyschski war sehr stark. Das Brüsseler Publikum wird die Freude haben, im Konzert vom 7. Januar seine Musik zu hören, die genau so elegant wie in ihrem Charakter originell ist.“
Am 7. Januar 1865 hörte man zum ersten Mal russische Musik in einem öffentlichen Konzert vor einem ausverkauften Saal in einer Hauptstadt Europas. Der Erfolg übertraf alle Erwartungen. Der Komponist verkroch sich in der Galerie, da er so aufgeregt war, dass er es in der Nähe des Orchesters nicht aushielt. Nach Beendigung des Kosakentanzes brüllte das Publikum vor Freude und rief nach dem Komponisten. Zufällig wurde er im Publikum entdeckt. „Da ist er! Donnerwetter, es ist ein Russe!“ Dargomyschski wurde umringt. Beinahe hätte man ihm die Kleider vom Leibe gerissen. Sogar in der Garderobe gab man dem seltenen Musikgast aus dem fernen Russland den Vortritt. Dargomyschski war, obwohl er sich über den Erfolg freute, heilfroh, als er auf die Straße entschlüpfen konnte.
Die Brüsseler Zeitung „Independance Belge“ schrieb über das Konzert: „Das zweite Konzert des Vereins der Brüsseler Musiker hat den Musikliebhabern die seltene Gelegenheit gegeben, den Wert eines russischen Komponisten kennen und schätzen zu lernen. Herr Alexander Dargomyschski, der Petersburger Musikwelt seit langem bekannt, hat zum ersten Mal seine Kompositionen dem Brüsseler Publikum zur Diskussion gestellt. Es wurden eine Ouvertüre und eine Phantasie über ein Kosakenthema gespielt. Ist Herr Dargomyschski seiner gesellschaftlichen Stellung nach ein Dilettant, so ist er ein Künstler dank seinem Talent. Beide Werke, die man gehört und beklatscht hat, enthüllen Kenntnis der technischen Mittel und verraten zugleich ein ganz außerordentliches künstlerisches Können. Der Aufbau der Ouvertüre ist gut. Die musikalischen Ideen entwickeln sich klar und natürlich. Die Instrumentierung ist brillant und ohne Missbrauch der Klangeffekte. Die Phantasie über ein Kosakenthema ist elegant und sehr originell. Nach diesem Stück wurde Dargomyschski vom Orchester und vom Publikum gerufen. Wir können also einen wahren Erfolg registrieren.“
Auch andere Zeitungen waren des Lobes der Musik Dargomyschskis voll, unterstrichen „die meisterliche Instrumentierung“ und erklärten, dass man jetzt vom Norden das Licht der Musik erwarten könne. Vom Kosakentanz hieß es, dass er sich durch „Feurigkeit und hinreißende Lebendigkeit“ auszeichne.
Mit einem Male war also der sich in seiner Heimat immer noch verkannt fühlende Komponist der Held des Tages in Brüssel. Er erhielt täglich Einladungen zu unzähligen Gesellschaften und wurde buchstäblich auf den Händen getragen. Kapellmeister Hansens erklärte: „Wenn ich Rentner wäre, würde ich mit Ihnen eine Tournee machen. Ich würde Ihre Werke dirigieren, und Sie würden sich meiner Werke annehmen.“
Dargomyschski trug sich mit dem Gedanken, in Brüssel eine seiner Opern aufzuführen. Die „Russalka“ erschien ihm für diesen Zweck allerdings zu russisch. Der Komponist dachte an die noch nicht aufgeführte Ballettoper „Der Triumph des Bacchus“, der Intendant der Brüsseler Oper war jedoch verreist, so wurde aus den angeknüpften Verhandlungen nichts.
Aus Brüssel begab sich Dargomyschski nach herzlichem Abschied von seinen neuen Musikfreunden nach Paris. „Die Metropole der Welt“ machte auf ihn diesmal einen noch schlechteren Eindruck als das erste Mal. Im Mai desselben Jahres kehrte er in die Heimat zurück.
Der meteorhafte Erfolg russischer Musikstücke in Brüssel hatte aber keine nachhaltigen Wirkungen.

Humor und Terzett der Generale
Ein in der russischen Musik ganz neues Element kam bei Dargomyschski zum ersten Mal zum Vorschein: der Humor. Nur allzu gern schwelgten die russischen Komponisten in sentimentalen und melancholischen Mollstimmungen. Verzehrende Sehnsucht, hoffnungslose oder verratene Liebe, schmerzliche Trennung waren der Inhalt ihrer tränenreichen Salonlyrik. Der Begriff des musikalischen Humors war russischen Komponisten vor Dargomyschski so gut wie unbekannt. Bereits in dem Hochzeitsakt der „Russalka“ fallen die komischen Auftritte des Heiratsvermittlers, einer im russischen Altertum bekannten Figur, auf. Noch stärker ausgeprägt ist der Humor in Dargomyschskis komischen Liedern, die bald Schule machten.
Das komische Lied „Der Titularrat“ erzählt von einem kleinen Beamten, der sich Mut antrinken musste, um der Tochter einer hoch stehenden Persönlichkeit einen Heiratsantrag zu machen. Vom Vater der Angebeteten schroff abgewiesen, betrinkt sich der Armselige noch ärger. Lallend schwankt er durch die Straßen und sieht, von Alkoholdämpfen umnebelt, das Bild der unerreichbaren Schönen vor sich. Es ist eine effektvolle Gesangsnummer für einen Bassbuffo, die durch ihre Neuartigkeit in Russland geradezu bahnbrechend wirken musste.
Auch bei den beliebten Musikabenden Dargomyschskis herrschte ein ungezwungener Humor, der vom Hausherrn ausging. Eine seiner vielen Schülerinnen, ein Fräulein Miller, hatte die schlechte Angewohnheit, sich die Augen zu reiben, wofür der Lehrer ihr oft einen Klaps auf die Hände versetzte. Das half aber nicht. Als eines Abends Fräulein Miller wie gewöhnlich ihre Augen zu reiben anfing, gab Dargomyschski ein Zeichen. Zwei Herren erhoben sich und gingen ans Klavier. Dargomyschski gesellte sich zu ihnen und alle drei stimmten ein vom Hausherrn komponiertes Terzett an: „Reibt nicht die Augen!“ Es war ein choralartiges Stück in F-dur, das gerade durch den Kontrast der grotesken Worte zu der feierlich getragenen Musik außerordentlich komisch wirkte.
Die komischen Lieder wurden bei Dargomyschski nicht von Damen, denen lyrische Romanzen vorbehalten waren, sondern von kräftigen Bässen vorgetragen. Unter diesen zeichneten sich zwei Generale aus, Williaminow und Opotschinin. Manchmal gesellte sich zu ihnen General Charitonow. Es war ein Terzett der Generale in voller Uniform, auch ein Anblick, der manchen Besucher zum Lachen bringen musste.
Dargomyschski überlegte, ob er nicht eine komische Oper schreiben solle. Glinka hatte ihn auf diesen Gedanken gebracht. Freilich fühlte sich Dargomyschski beleidigt, wenn Glinka ihn überredete, eine komische Oper zu komponieren. „Glaubst du, dass ich nur komische Stücke komponieren kann?“ fragte er den älteren Gönner und Freund. „Ich bin der Meinung“, erwiderte Glinka, „dass eine komische Oper viel schwerer zu komponieren ist als eine tragische. Ich jedenfalls kann es nicht.“
Dennoch hatte Dargomyschski den Plan einer komischen Oper bald aufgegeben. Ein anderer Gedanke gewann die Oberhand: ein Drama Puschkins wörtlich und ohne Striche durchzukomponieren! Es war ein neuer Schritt auf dem Wege des Realismus der Operndeklamation. Dieser Weg musste aber in eine Sackgasse führen; denn das Wort gewann das Übergewicht über die Musik.

Don Juan auf russisch
Wiederum musste Puschkin den Stoff liefern. Diesmal war es aber kein russischer Stoff, sondern das unerschöpfliche Thema des Don Juan, der auch Puschkin gereizt hatte. Puschkin nannte sein Stück in Versen „Der steinerne Gast“.
Der Inhalt dieser Oper, die zum ersten Mal – nicht nur in Russland – ein Schauspiel oder vielmehr ein literarisches Werk ohne jede Änderung musikalisch untermalt, ist folgender:
Der erste Akt spielt vor den Toren von Sevilla. Don Juan, wegen seines Lebenswandels aus der Heimat ausgewiesen, kehrt, von seinem Diener Leporello begleitet, heimlich aus der Verbannung zurück. Er trifft Donna Anna, die auf dem Grabe ihres im Duell mit Don Juan gefallenen Mannes, des Komturs, dem Toten nachtrauert. Don Juan ist von ihrer Schönheit fasziniert.
Im zweiten Akt feiert Donna Laura, eine leichtlebige junge Person, ein Fest in ihrer Wohnung. Als sie mit einem ihrer Verehrer, Don Carlos, allein bleibt, tritt plötzlich Don Juan ein, den die Schöne stürmisch empfängt. Er kreuzt mit Don Carlos die Klinge und ersticht diesen, worauf Laura ihm um den Hals fällt.
Als Mönch verkleidet, nähert sich Don Juan im dritten Akt, der im Kloster vor der Statue des Komturs spielt, der trauernden Donna Anna. In einer feurigen Liebeserklärung nennt er sich Don Diego und fleht um die Erlaubnis, Donna Anna am nächsten Abend in ihrem Hause zu besuchen. Nachdem Donna Anna weggegangen ist, befiehlt Don Juan aus übermütigem Trotz Leporello, den Komtur zum Abendessen bei Donna Anna einzuladen.
Der letzte Akt gipfelt in der Liebeserklärung Don Juans an Donna Anna, der das plötzliche Erscheinen des steinernen Gastes ein jähes Ende bereitet. Der verwegene Don Juan reicht der Statue die Hand und wird von ihr in die Hölle gezogen.
Diese Variation des bekannten Don-Juan-Themas gibt Dargomyschski die Gelegenheit, die Kunst seines melodischen Sprechgesanges auf einen Höhepunkt zu bringen. Der den herrlichen Versen Puschkins innewohnende Rhythmus wird in flüssiger Weise musikalisch festgehalten. Die Untermalung des Dialogs begnügt sich mit den sparsamsten Mitteln. Das Schwergewicht liegt ausschließlich in der sprachlichen Melodie. Die Oper enthält außer zwei Einlageliedern im zweiten Akt, die von Don Carlos und Laura gesungen werden, keine einzige geschlossene Nummer. Das russische Element in der Musik fehlt diesmal vollständig.
Die Neuartigkeit der Auffassung der Oper musste revolutionär wirken. Das Ziel, das Dargomyschski vorschwebte, war, mit Mitteln der Musik die Sprache Puschkins mit allen ihren Nuancen und Feinheiten zu erfassen. Dieses Ziel ist zweifellos erreicht. Liebe, Zartheit, Leidenschaft, Angst – alle Regungen der menschlichen Seele sind in der mustergültigen Deklamation festgehalten. Aber der vollendeten Behandlung der Sprache fehlt das instrumentale Gegengewicht. Wie bei Glinka im „Ruslan“ spukt allerdings auch hier eine Ganztonskala bei dem gespenstischen Erscheinen des steinernen Gastes im Schlussbild. Die Musik kommt im Großen und Ganzen nicht zu ihrem Recht. Deshalb gab es in dieser Richtung keinen Weg weiter. „Der steinerne Gast“ musste bei aller Meisterschaft ein interessantes Experiment bleiben….
Freilich dachte Dargomyschski keineswegs an die Möglichkeit eines auch nur bescheidenen Erfolges für sein Werk, das er ganz für sich allein geschaffen hatte. Der Komponist war, von einem schweren Herzleiden befallen, vom Tode gezeichnet, als er am „Steinernen Gast“ arbeitete. Die Oper wurde bis auf einige Takte zwar vollendet, aber nicht instrumentiert. Dem Wunsche Dargomyschskis gemäß übernahm die Instrumentierung einer von den jungen Leuten der „neu-russischen“ Schule, die sich bei ihm gemeldet hatten: Rimski-Korsakow. Die wenigen Takte komponierte ein anderer aus demselben Kreise, der Militäringenieur Cäsar Cui, dem wir als Kritiker später noch begegnen werden.
Am 5. Januar 1869 starb Dargomyschski im Alter von sechsundfünfzig Jahren an Herzschlag.
Kurz nach seinem Tode wurde der „Steinerne Gast“ der Intendanz der Petersburger Hofoper vorgelegt. Das Honorar, das Dargomyschski, der seinen Tod vorausgeahnt hatte, für seine Erben bestimmte, sollte dreitausend Rubel betragen. Die Intendanz, die grundsätzlich mit der Aufführung der Oper einverstanden war, weigerte sich jedoch, die verlangte Summe zu bezahlen. Sie berief sich auf einen sonderbaren Paragraphen einer Bestimmung, die im Jahre 1823 erlassen worden war und einem russischen Komponisten nicht gestattete, mehr als 1143 Rubel für ein angenommenes Werk zu erhalten. Ausländische Komponisten dagegen konnten für ihre Werke soviel verlangen, wie sie wollten. So hatte beispielsweise Verdi für seine in Petersburg uraufgeführte „Macht des Schicksals“ ein Honorar von 15000 Rubel erhalten.
Darüber schrieb der Publizist Wladimir Stassow, ein fanatischer Vorkämpfer der nationalen russischen Kunst, in den Petersburger Nachrichten: „Die Oper ‚Der steinerne Gast‘, das letzte Werk Dargomyschskis, das mit dem genialen ,Ruslan‘ Glinkas konkurrieren kann, soll unserem Publikum vorenthalten bleiben, weil es unmöglich ist, für eine russische Oper dreitausend Rubel zu bezahlen! Alle, die von diesem unglaublichen Entscheid erfahren, werden mit den Achseln zucken und sich fragen: Ist das möglich?! Sind wir so reich an Talenten, dass man sich um eine Oper gar nicht zu kümmern braucht? Erscheinen bei unseren Riesenausgaben dreitausend Rubel wirklich als eine so ungeheuer hohe Summe? Soviel Geld darf man für eine russische Oper nicht ausgeben?“ Zum Schluss des ausführlichen Artikels forderte Stassow die russische Gesellschaft auf, eine Geldsammlung zu veranstalten, um die Aufführung der Oper zu ermöglichen. Daraufhin liefen Spenden bei der Redaktion der Zeitung ein. Es waren größere und kleinere Beträge. So schickte ein Unbekannter aus dem kleinen Nest Ljuban fünf Rubel. Endlich war der Betrag voll. Am 16. Februar 1872 konnte die Uraufführung des eigenartigen Werkes in der Petersburger Hofoper endlich stattfinden.
Wie zu erwarten war, hatte die Oper keinen Erfolg und musste bald abgesetzt werden.
Inzwischen aber war – wenn auch nur vorübergehend – der Stern eines russischen Komponisten aufgegangen, der als erster und zugleich einziger in Russland in seinen künstlerischen Anschauungen ganz im Banne der Kunst Richard Wagners stand. Dieser russische Wagnerapostel hieß Alexander Nikolajewitsch Serow.


aus:

Peter Tschaikowski
Die Tagebücher

23. Juli. Dargomyshski? Ja!
Natürlich war das ein Talent! Aber noch nie äußerte sich der Typ des Dilettanten in der Musik so deutlich wie in ihm. Auch Glinka war ein Dilettant, jedoch seine kolossale Genialität diente ihm als Schutzschild für seinen Dilettantismus; wären da nicht seine fatalen Memoiren, wir hätten uns um sein Dilettantentum überhaupt nicht gekümmert. Mit Dargomyshski ist das etwas anderes. Bei ihm steckt das Dilettantische im Schaffen selbst und auch in dessen Formen. Ein mittelmäßiges, dabei nicht einmal mit Technik ausgerüstetes Talent zu sein und sich dabei für einen Neuerer zu halten — das ist in der Tat reinstes Dilettantentum. Dargomyshski hat zum Ende seines Lebens den „Steinernen Gast“ geschrieben und war der festen Überzeugung, er würde alte Grundpfeiler zerbrechen und auf deren Ruinen etwas Neues, Kolossales aufbauen. Ein trauriger Irrtum! Ich sah Dargomyshski in dieser letzten Phase seines Lebens, und angesichts seiner Leiden (er war herzkrank) war mir natürlich nicht nach Streiten zumute. Aber etwas Unsympathischeres und Verlogeneres als diesen misslungenen Versuch, Wahrheit in einen Bereich der Kunst hineintragen zu wollen, wo alles auf Lüge aufgebaut ist und wo Wahrheit im alltäglichen Wortsinne überhaupt nicht erforderlich ist, kenne ich wahrlich nicht. Meisterschaft (und sei es auch nur ein Zehntel dessen, was Glinka besaß) war bei D. überhaupt nicht vorhanden. Dafür aber eine gewisse Pikanterie und Originalität. Besonders gelangen ihm immer Kuriositäten in der Harmonik. Aber nicht um Kuriositäten geht es bei künstlerischer Schönheit, wie viele bei uns denken mögen. Ich müsste nun eigentlich noch etwas über die Persönlichkeit von D. erzählen (ich habe ihn ja ziemlich oft in Moskau während seiner Erfolge gesehen), aber daran möchte ich lieber nicht rühren. Er war sehr scharf und ungerecht in seinen Urteilen (beispielsweise, wenn er die Brüder Rubinstein beschimpfte), sprach aber von sich gern in lobendem Tone. Bereits vom Tode gezeichnet, wurde er viel gütiger und zeigte sich sogar ziemlich herzlich gegenüber jüngeren Kollegen. Nur das möchte ich nennen. Mir gegenüber verhielt er sich (anlässlich meiner Oper „Der Wojewode“10) unerwartet teilnahmsvoll. Offensichtlich glaubte er nicht den Gerüchten, ich hätte in Moskau bei der Premiere seiner „Esmeralda“11 zu denen gehört, die die Oper ausgezischt (!!!) haben.“