Vom Don zur Wolga
Tag Drei: Wir schleusen uns über 13 Treppenstufen bis Wolgograd
Unser Spruch des Tages:
Die Fremde darf dir zur Heimat werden,
doch darf die Heimat dir nie zur Fremde werden.
So klar der Himmel beim Sonnenuntergang am Zimljansker Stausee auch aussah, er hat uns in der Nacht doch dichten Nebel beschert, der es aus Sicherheitsgründen unmöglich machte, dass die MS Kandinsky in den teilweise sehr engen Wolga-Don-Kanal einfahren durfte. So verbrachten wir zwar eine sehr stille Nacht an Bord des Schiffes, die uns eine tiefen Schlaf mit geringeren Maschinengeräuschen bescherte als bei Fahrt, so war ich um fünf Uhr schon so gut ausgeschlafen, dass ich erhoffte, noch den höchsten Punkt des Kanals, den Warwarosker Stausee mit 88m über Wolganiveau zu sehen – doch weit gefehlt, wir lagen noch vor der Schleuse 13 vor Anker. Das Schiff samt Umgebung war mit dickem Nebel verhüllt! Naja, immerhin konnte ich so den unwirklich scheinenden Sonnenaufgang hinter einem „Erl-Königlichen“ Nebelschleier fotografieren. Was ich aber noch nicht ahnte war, dass der Nebel nicht nur aus einer Vielzahl feinster Wassertröpfchen bestand, sondern aus scheinbar ebenso vielen Mücken. Als ich in die Kabine zurückkehrt wimmelte es dort von Mücken – ich hatte das Fenster zum Lüften geöffnet. Meine Beschäftigung bis zum Frühstück bestand nun in der Jagd auf Mücken, sie waren zwar keine Stechmücken, aber trotzdem äußerst lästig. Erfolg meiner Mühen: Die Bettwäsche musste gewechselt werden, da voller Mückenleichen … siehe Bildergalerie
Als sich aber der Nebel nach dem Frühstück gelichtet hatte, wurden auch die Anker gelichtet und siebzig Kilometer lang ging es mit uns an Bord über drei Schleusen aufwärts (insgesamt 44 Höhenmeter) in eine bis zum Horizont völlig ebene Landschaft um den Warwarowsker Stausee (auch „Stausee von Bereslavka“ genannt). Eine verdammt windige Gegend, wie der sich mit ziemlicher Mühe gegen den Fahrtwind stemmende Mitreisende zu Beginn des folgenden Videos erkennen lässt:
Es war aber kaum der Fahrtwind, die MS Kandinsky war schließlich kein Schnellboot, sondern ein sehr bequemes Kreuzfahrtschiff, eine steife Brise fegte von der Wolga her über die kahle Hochebene der Steppe. Nun konnte ich mir vorstellen, wie quälend kalt der Kriegswinter 1942/43 dort gewesen sein musste …
Von nun an ging’s bergab mit uns … Auf nur 21 Kilometer Länge hatte die MS Kandinsky über neun Schleusen 88 Höhenmeter zu überwinden. Dieser Abschnitt wird als Tschepurnikowskij-Treppe bezeichnet. Der Name stammt von einer Schlucht in der ein Eichenwald inmitten der Steppe wie ein kleines biologisches Wunder wirkt. Sowohl Schleuse 9 als auch Schleuse 1 werden von einer Eisenbahnlinie als auch einer Straße überquert wie im folgenden Video zu sehen, musikalisch umrahmt von dem Dauerbrenner der russischen Volksmusik „Kalinka„:
Der Morgennebel hatte zwar zur erfreulichen Folge, dass wir (die Meisten von uns jedenfalls) alle 13 Schleusen im aufmerksamen Wachzustand genießen konnten, doch statt um 14 Uhr, wie geplant, legten wir nun erst um 20:30 Uhr im Flusshafen von Wolgograd an. Da am 1. Mai, an dem wir ein zweites Mal, aus Astrachan kommend, in Wolgograd anlegen würden, sowohl die Maidemonstration der Gewerkschaften und ein Marathonlauf die Hauptstraßen blockieren würden, als auch, weil in diesem Jahr das orthodoxe Osterfest am erstem Mai gefeiert wird, konnte von der Reiseleitung für den folgenden Sonntag kein Bus für eine Stadtrundfahrt organisiert werden. Gaher fand die gebuchte Stadtrundfahrt des Nachts statt, zu sehen waren aber nur die beleuchten Helden-Skulpturen beim Aufstieg auf den Mamajew-Kurgan. Trotzdem – so hoffe ich – oder vielleicht auch gerade deswegen, kann ich die nachdenkliche Stimmung dieses Nachtausfluges, in die uns die Erinnerung an das grausame Kriegsgeschehen 1942/43 versetzte, im folgenden Video auch dem Betrachter nachfühlbar machen. Die Musik – Robert Schumanns „Träumerei“ – wird in dem „Saal des Soldatenrums“ in einen unangenehm flauschigen Streicherteppich gehüllt, als Endlosschleife abgespielt. Ich finde meine, dagegen eher spröde MIDI-Einspielung mit Samples des Softwareflügels „The Hammersmith“ von Soniccouture, die Gefühle des Besuchers eher angemessen schildernd:
Und nun folgt meine Gesamteinspielung der„Kinderszenen“ op. 15 von Richard Schumann mit Playlist:
00:08 – 1. Von fremden Ländern und Menschen G-Dur
01:33 – 2. Kuriose Geschichte D-Dur
02:55 – 3. Hasche-Mann h-Moll
03:37 – 4. Bittendes Kind D-Dur
04:36 – 5. Glückes genug D-Dur
05:25 – 6. Wichtige Begebenheit A-Dur
06:25 – 7. Träumerei F-Dur
09:31 – 8. Am Kamin F-Dur
10:55 – 9. Ritter vom Steckenpferd C-Dur
11:52 – 10. Fast zu ernst gis-Moll
13:51 – 11. Fürchtenmachen G-Dur
15:43 – 12. Kind im Einschlummern e-Moll
17:40 – 13. Der Dichter spricht G-Dur
Übrigens: Von Rostov-am-Don bis Wolgograd hat MS „Kandinsky” eine Strecke von 586 km zurückgelegt!