Von Wolgograd nach Astrachan

Tag Vier: Die Wolga hinunter, von Wolgograd nach Astrachan

Unser Spruch des Tages:
Man sieht nur mit dem Herzen gut.
Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.

(Antoine de Saint-Exupery)

Seit 23:30 Uhr (alle Zeitabgaben in „Moskauer Zeit“) des dritten Reisetages sind wir nun in Richtung Astrachan unterwegs. Wir haben eine Strecke von ca. 500 km vor uns und werden am frühen Morgen des fünften Tages unserer Reise in Astrachan ankommen. Was wir tagsüber von der Wolga und der umgebenden Steppenlandschaft sehen werden, wird also lediglich ein beidseitiger Uferstreifen der Länge von etwa 170 km sein, aber was soll`s: „Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar“, schrieb Saint-Exupery in seinem poetischen Buch mit hintergründiger Philosophie über die rechte Art zu leben: „Der Kleine Prinz“. Man sah tatsächlich mit den Augen nichts weiter als Fluss und flache Steppe, hin und wieder begrenzt durch ein Steilufer mit einem Dorf (z.B. das Dorf Nikolskoje – Oblast Astrachan – mit der KircheGeburt der seligen Jungfrau Maria“, auf russisch „Храм Рождества Пресвятой Богородицы“ mit vergoldeten Zwiebeltürmen):

 – und doch regte dieses Sinnbild der Unendlichkeit und des unermüdlichen Flusses alles Seienden zum Freilassen von verdrängten Gedanken und Gefühle an, um hinter die verwirrende Oberflächlichkeit der sichtbaren Dinge sehen (zu fühlen!) zu können, wenn man die Muse, wie bei diesem Dahingleiten über die Wolga, dazu hatte, sprichwörtlich „die Seele baumeln ließ“:

An diesem Fluss will ich bleiben, dachte Siddhartha, es ist derselbe, über den ich einstmals auf dem Wege zu den Kindermenschen gekommen bin, ein freundlicher Fährmann hat mich damals geführt, zu ihm will ich gehen, von seiner Hütte aus führte mich einst mein Weg in ein neues Leben, das nun alt geworden und tot ist – möge auch mein jetziger Weg, mein jetziges neues Leben dort seinen Ausgang nehmen!
Zärtlich blickte er in das strömende Wasser, in das durchsichtige Grün, in die kristallenen Linien seiner geheimnisreichen Zeichnung. Lichte Perlen sah er aus der Tiefe steigen, stille Luftblasen auf dem Spiegel schwimmen, Himmelsbläue darin abgebildet. Mit tausend Augen blickte der Fluss ihn an, mit grünen, mit weißen, mit kristallnen, mit himmelblauen. Wie liebte er dies Wasser, wie entzückte es ihn, wie war er ihm dankbar! Im Herzen hörte er die Stimme sprechen, die neu erwachte, und sie sagte ihm: Liebe dies Wasser! Bleibe bei ihm! Lerne von ihm! O ja, er wollte von ihm lernen, er wollte ihm zuhören. Wer dies Wasser und seine Geheimnisse verstünde, so schien ihm, der würde auch viel anderes verstehen, viele Geheimnisse, alle Geheimnisse.
Von den Geheimnissen des Flusses aber sah er heute nur eines, das ergriff seine Seele. Er sah: dies Wasser lief und lief, immerzu lief es, und war doch immer da, war immer und allezeit dasselbe und doch jeden Augenblick neu! O wer dies fasste, dies verstünde! Er verstand und fasste es nicht, fühlte nur Ahnung sich regen, ferne Erinnerung, göttliche Stimmen.

zitiert aus „Siddhartha“ von Hermann Hesse

Hier kannst du dir zwei Ausschnitte aus aus dem Video „Siddhartha“ ansehen (es liest Gert Westphal) und dir in der folgenden MP3-Datei eine weise Passage aus dem Hörbuch von Ulrich Matthes vorlesen lassen.

Auch wenn wir schlafen und von Siddhartha träumen, das Schiff und wir werden am nächsten Morgen in Astrachan sein – so hoffen wir.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

vierzehn + acht =