Die Stadt Van in Ostanatolien

Zum Beginn des Videos: Noch sind wir nicht in Van, so einfach geht das nicht in Ostanatolien. Unser Überland-Bus im Film kann, aus Richtung Bitlis kommend, erst nach der obligatorischen Kontrolle durch das in Ostanatolien überall präsente Militär,  über Tatvan nach Van weiterfahren. Was aber danach im Jahr 2005 an „Straße“ kam, erschien uns ziemlich halsbrecherisch. Weite Strecken der Straße, die nach Tatvan das Ufer des Van-Sees wieder verläßt um einen Gebirgspaß zu überwinden, waren noch im Bau. Wie man auf dem Video sehen kann, überholten die Busse sehr risikobereit. In solchen Situationen war man schon hin und wieder versucht zu beten.

2005 übernachteten wir im Hotel Urartu, nahe dem Dabbaoglu Park, in dem dann die Videos von 2012 entstanden. Es war Freitag und die Gläubigen strömten zur Hazreti Ömer Moschee. Da diese aber von dem Erdbeben vom 23. Oktober 2011 so beschädigt wurde, daß sie nun einsturzgefährdet ist, beten die Menschen notgedrungen auf den Rasenflächen im Park. Die Kinder, die mit den  Faltkartons umherlaufen, vermieten diese an die Betenden, damit diese sich beim Beten darauf knien können, statt dies auf den bloßen Rasen tun zu müssen. Überhaupt sah ich kaum Kinder, die nicht irgendeiner Erwerbs-Tätigkeit nachgingen. Entweder verkauften sie Zigaretten, Obst, putzten Schuhe, trugen eine Waage mit sich, auf der man sich gegen Zahlung eines kleinen Obulus wiegen konnte.  Sie boten ihre Dienste sogar bis Mitternacht auf die Straßen an, versuchten irgendwann, irgendwo ein Schlafplatz in einer vor der Polizei geschützten Ecke zu finden, wenn nichts mehr zu verdienen war,  es war ja nicht so wie in Deutschland, wo mit Einbruch der Dunkelheit die Bürgersteige hochgeklappt werden …

Zum Jungen im Video, der in schwerer innerer Bedrängnis vor dem Eiskaffee trampelnd auf und ablief und immer mal wieder zum Handy griff:  Er verkaufte gemeinsam mit einem Erwachsenen Papier-Taschentücher. Den Mann wollte er nun rufen, weil er dringend auf die Toilette mußte. Doch der Mann blieb ewig aus, daher das immer verzweifeltere Hin und Her des Jungen. Er konnte ja nicht einfach von seinem Verkaufsplatz weg, weil sich dann jeder an seinen Tempo-Taschentüchern hätte bedienen können.  Man mußte sich einfach seiner Not erbarmen.

Ich hatte aber generell nicht den Eindruck, daß ihr Selbstbewußtsein darunter leidet, daß sie arbeiteten – eher das Gegenteil war der Fall. Vom 16 Juni bis Mitte September sind in der Türkei einheitlich in allen Regionen  Schulferien und auch in Deutschland arbeiten Jugendliche in den Ferien, zwar nur um sich irgendeinen Sonder-Wunsch zu erfüllen. Das war  dort anders: in Van mußten viele Kinder nach, aber auch schon vor der Erdbebenkatastrophe, arbeiten um die existentiellen Grundbedürfnisse ihrer Familien mit absichern zu helfen, sofern sie überhaupt in einer lebten.

Man sollte sich von dem kindlichen Aussehen der Jungs nicht täuschen lassen, sie sind durchweg um zwei bis drei Jahre älter, als der Westeuropäer vermutet; unser Wohlstand und somit die bei uns zu beobachtende Entwicklungsakzeleration haben Ostanatolien noch nicht erreicht.

Auf den ersten Blick schien es so, als hätte das Erbeben von 2011 keinen besonders großen Schaden angerichtet, sah man sich die Gebäude aber näher an, erkannte man, daß sehr viel leerstehen, da sie einsturzgefährdet sind. Die Leute erzählten, daß man daran denkt, die Stadt im den Norden des heutigen Van, dahin wo sich heute bereits die Universität von Van befindet,  umzuziehen, Es wäre nicht der erste Umzug innerhalb von einhundert Jahren. Die osmanische Altstadt unterhalb der Burg wurde 1917 beim Abzug der russischen Besatzungstruppen zerstört und die Stadt danach einige Kilometer östlich der alten Festung wieder aufgebaut.

Die Vankatze, deren großes Standbild im Video zu sehen ist, ist Symbol der Stadt Van, aber es gibt sie kaum noch in freier Wildbahn


Çavuştepe liegt 24 km südöstlich von Van

Die Burg bei Çavuştepe wurde von König II. Sarduri von  Urartu (reg. 764 – 735 v. Chr.) erbaut. Auf dem Gelände der Burg werden seit 1961 archäologische Ausgrabungen durchgeführt. Rechts und links des Haupteingangs befinden sich die Untere (Aşağı Kale) und die Obere Burg (Yukarı Kale). In der Yukarı Kale, im Osten, sind eine große Plattform und ein Tempel, der dem Hauptgott von  Urartu, Haldi, geweiht ist. In der westlich gelegenen Aşağı Kale sieht man viele Werkstattgebäude, eine 4 – 5 Meter lange Stadtmauer, Keilschriftentafeln, einen Palast, Lager, Keller, eine „Außentoilette“, wie man sie auch noch bei uns in Mittelalterlichen Burgen findet, und einen Tempel das Gottes Irmuşini.


Zur Geschichte von Van und Tušpa

Die Besiedlung des Gebietes um den Van-See reicht bis in die Zeit vor 7500 Jahren zurück. Siedlungshügel nahe der Stadt Van deuten daraufhin hin, daß die Gegend bereits 5.500 vor Christus besiedelt war. Die Geschichte der Stadt selbst ist rund 3.000 Jahre alt.  Das Gebiet war seitdem  von den Hurritern besiedelt, den vermutlichen Urahnen der späteren Urartäer, die als erstes Volk in Ostanatolien eine politisch und kulturell einheitliche Kultur schufen. Aus den Ostteilen, die von Assyrien erobert worden waren, setzte eine Auswanderung der Hurriter nach Norden ein und damit auch in die Region Van, wo sich separate Kleinfürstentümer herausbildeten. Das älteste Kleinreich der Urartäer, die sich selbst „Bianili“ (die von Bian) nannten, hatte seine beiden ersten Hauptstädte unter dem König Aramu in den bislang noch nicht identifizierten Orten Sugunia und später Arzaschgun (vermutlich südlich bzw. nordwestlich des Vansees). Als eigentlicher Reichsgründer gilt erst Sardur I., der 840 v. Chr. eine neue Hauptstadt Tuschpa (Van Kalesi) von „Bian“ (daraus wurde später Van) am Van-See anlegen ließ. Eine erste Blüte erfuhr Tuschpa unter dem Herrscher Ischpuini (830 bis 810 v. Chr.). Unter Ischpuinis Enkel Sardur II. begann eine rege Bautätigkeit ein, der große Freilufttempel von Tuschpa entand zu dieser Zeit. Sardur II. verlor aber743. v. Chr. im Kampf gegen die Assyrer die Herrschaft über Nordsyrien. Die Reihe der Niederlagen gegen die Assyrer setzte sich unter seinem Sohn Rusa I. (735-714 v. Chr.) fort und damit begann der Niedergang des Urartäerreiches. Bevor der armenische König Tigranes der Große (95-54 v. Chr.) Van zu einem Mittelpunkt seines Reiches ausbaute, gehörte Van zunächst zur persischen Satrapie Armenia und dann, nach Alexander dem Großen, ab dem Jahr 331 v. Chr. zum Königreich Pontos. Nach dem Tod Alexanders fiel Van in die Hände der Seleukiden und wurde später zum Zankapfel mehrerer Reiche. Die armenische Reschtuni-Dynastie hielt sich bis 634 (Arabereinfall). 1071 geriet Van an die Marwanidendynastie, dann an die Karakoyun Ogullari. Der folgende Streit um Van zwischen Osmanen und Persern endete zugunsten des Osmanenreiches. Die osmanische Altstadt unterhalb der Burg wurde 1917 beim Abzug der russischen Besatzungstruppen zerstört und einige Kilometer östlich der alten Festung wieder aufgebaut. Im Zuge des Unabhängigkeitskampfes  der Türkei (bis 1922) wurde Van in die heutige türkische Republik eingegliedert.

Wie viele Städte der Region war auch Van gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine armenisch geprägte Stadt, im Zuge der Bildung einer türkischen Republik wurde die armenische Bevölkerung von Van allerdings weitgehend vertrieben oder ermordet. Von 1889 bis 1927 sank die Bevölkerung der Stadt, ähnlich der vieler anderer Städte der Region, drastisch von 35.000 auf 7.000 Bewohner. Die enorm gewalttätige Phase der türkischen Geschichte vom ersten bis zum zweiten Weltkrieg ist bis heute ebenso wenig aufgearbeitet, wie der seit den 80ern andauernde bewaffnete Konflikt zwischen Kurden und türkischem Militär, der gerade dieser Tage wieder eskaliert.

Wer oder besser was sind eigentlich die Kurden? Die Kurden leben im Grenzbereich von Türkei, Irak, Iran sowie in Nordost-Syrien und Südwest-Armenien. Sie sprechen eine eigenständige nordwest-iranische Sprache, vergleichbar der persischen und armenischen Sprache. Innerhalb des Kurdischen lassen sich verschiedene Dialekte unterscheiden. Die Bezeichnung „Kurmâncî“ wird sowohl für den nördlichen Dialekt als auch für das Kurdische im allgemeinen verwendet. Der wichtigste südliche Dialekt ist das „Sorani“.

Trotz gemeinsamer Sprache, Geschichte und Kultur konnten die Kurden keinen eigenen Nationalstaat errichten; sie bilden Minderheiten in der Türkei (12 Millionen), im Iran (5,5 Millionen), im Irak (3,7 Millionen), in Syrien (0,5 Millionen), in mittelasiatischen GUS-Staaten (0,15 Millionen) und im westlichen Europa (0,62 Millionen). 75 bis 80 Prozent sind Sunniten, die übrigen Schiiten. Nur begrenzt, trotz kurdischer Muttersprache, werden zu den Kurden die unter ihnen verbreiteten Jeziden gerechnet, Angehörige einer geheimen Religionsgemeinschaft mit altorientalischen und häretisch-christlichen Glaubenselementen, siehe den Blogbeitrag „Wer oder was sind eigentlich Yeziden?“ .

Nach dem Ersten Weltkrieg war ein kurdischer Staat in greifbare Nähe gerückt. Bevor sich die einzelnen Stämme jedoch auf eine Interessenvertretung einigen konnten, wurde 1924 der Vertrag von Lausanne unterzeichnet. Dieser ermöglichte die Gründung der modernen Türkei und sah keinen kurdischen Staat mehr vor. Der türkische Staatsgründer Kemal Atatürk schlug in den 20er und 30er Jahren mehrmals kurdische Aufstände nieder. Seit 1984 kämpfte die Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) unter Abdullah Öcalan zunächst für einen unabhängigen Staat, dann für mehr Autonomie. Bei Kämpfen zwischen der PKK und dem türkischen Militär wurden schätzungsweise rund 30.000 Menschen getötet.

Autonomiebestrebungen werden von Ankara als Separatismus bewertet. Ein von 1983 bis 1991 gültiges Sprachverbot war speziell auf das Kurdische gemünzt. Die türkische Regierung zeigte sich bisher nicht bereit, eine politische Lösung der Kurdenfrage zu diskutieren. „Es gibt kein Kurdenproblem, sondern nur ein Terrorismusproblem“, lautet die offizielle Linie.

Eine Folge des Konflikts ist Landflucht, tausende Dörfer wurden seit den 90ern seitens des Militärs geräumt und die Millionen Menschen strömen in die Metropolen der Region – Diyarbakir z.B. hat seine Bevölkerung seit 1980 auf beinahe eine Million mehr als verdreifacht, Van wuchs in der selben Zeit von 90.000 auf 400.000 Einwohner. Und folglich sind die sozialen Folgen für die Einwohner Vans die gleichen, wie die für die Einwohner Diyarbakirs.

Entsprechend chaotisch ist die Infrastruktur der Städte: Häuser, Straßen, Wasser und Strom bereit zu stellen ist für die Stadtverwaltungen eine massive Herausforderung. Mobilität wird meist zu Fuß oder mit dem Auto und öffentlichen (Mini)-Bussen erledigt, der Verkehr ist laut und oft sind Fahrbahn und Gehwege nicht gut getrennt. Es passieren außerordentlich viele schwere Verkehrsunfälle.  In den meisten Städten der Region sind Fahrräder eine absolute Ausnahme (bspw. in Diyarbakir, Batman, Dersim, Elazig oder Mardin).  Doch das galt bis 2005 noch nicht für Van –  in Van waren Fahrräder und vor allem Lastenräder überall präsent. Aber nun, mit den neuen Straßen,  hat die Autoflut auch Van erreicht.


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